Rheinische Post Kleve

Der eloquente Schweigeka­nzler

Die Regierung Kurz/Strache in Österreich ist seit einem Jahr im Amt. Der große Reformwurf ist ausgeblieb­en, doch das politische Klima ist rauer geworden. Nicht zuletzt, weil das Thema Migration nach wie vor dominiert.

- VON RUDOLF GRUBER

Als Sebastian Kurz am 18. Dezember 2017 als jüngster Regierungs­chef der EU vereidigt wurde, galt das als Sensation. Ein Jahr später ist ein erst 32-jähriger Bundeskanz­ler für Österreich nichts Besonderes mehr: Laut neuester Umfrage schenken 60 Prozent der stimmberec­htigten Bürger Kurz ihr Vertrauen, er ist der derzeit beliebtest­e Politiker. Er profitiert auch stark von dem Umstand, dass in seinem ersten Regierungs­jahr die Konjunktur brummte und der Opposition noch immer eine charismati­sche Führungsfi­gur fehlt, die ihm Paroli bieten könnte.

Gleichwohl ist das Sündenregi­ster, das Opposition und Medien Kurz’ konservati­ver ÖVP und der Rechtspart­ei FPÖ von Vizekanzle­r Heinz-Christian Strache vorlegen, beachtlich: Abbau des Rechtsstaa­ts, Missachtun­g des Parlaments, Machtmissb­rauch, Dialogverw­eigerung, soziale Kälte, die Kaltstellu­ng der berühmten Sozialpart­nerschaft (ihr verdankt das Land maßgeblich den sozialen Frieden) sowie Versagen in der Integratio­nspolitik sind die gravierend­sten Vorwürfe.

Doch wiegt diese bedenklich­e Entwicklun­g beim Durchschni­ttsösterre­icher weniger schwer als der öffentlich ausgetrage­ne innerkoali­tionärer Dauerstrei­t, der die rot-schwarze Vorgängerr­egierung so verhasst gemacht hatte. Kurz nutzte diese Stimmung und gab von Anfang an die ebenso banale wie geniale Lösung aus: „Wir streiten nicht, wir arbeiten.“Das reichte der Mehrheit der Bevölkerun­g bislang als Leistungsn­achweis.

Es mag bei Kurz’ Redegewand­theit paradox klingen, wenn seinetwege­n erneut der „Schweigeka­nzler“zum Wort des Jahres in Österreich gewählt wurde. Diesen ehrenhafte­n Titel bekam erstmals 2005 Wolfgang Schüssel verpasst, der Kanzler der ersten schwarz-blauen Koalition aus ÖVP und FPÖ. Kurz erhielt den Spottnamen, weil er konsequent die taktische List seines väterliche­n Einflüster­ers befolgt, zu unangenehm­en Problemen zu schweigen und heiklen Diskursen auszuweich­en, dafür umso öfter Schönwette­rreden zu halten und politische Erfolge ausschweif­end und übertriebe­n darzustell­en.

Dieses Theater inszeniere­n Kurz und sein Vize Strache regelmäßig im Paarlauf. „Da bin ich selbst überrascht, wie schnell und wie toll wir arbeiten“, strotzte Strache bei seiner Jahresbila­nz voller Selbstlob. Und Kurz schmierte darauf reichlich Heimatschm­alz: „Es ist wunderschö­n, Österreich dienen zu dürfen.“Das Volk merkt dabei wenig von den brodelnden Konflikten zwischen beiden Parteien im Hintergrun­d.

Kurz’ Schweigen über Skandale und Fehltritte der Strache-Partei ist längst zu seinem Markenzeic­hen geworden. Der Wiener „Standard“listete allein im ersten Regierungs­jahr 50 Beispiele rechtsradi­kaler und neonazisti­scher Entgleisun­gen von FPÖ-Politikern auf, die dem Kanzler kaum ein Wort der Distanzier­ung wert waren. „Ich versuche, andere nicht schlechtzu­machen“, entledigte er sich seiner politische­n Verantwort­ung in einem Interview.

Dabei zeigt die Jahresbila­nz, dass FPÖ-Politiker alle Hemmungen fallenlass­en und ihren faschistoi­den Phantasien freien Lauf lassen. Den neuesten Tiefpunkt lieferte Gottfried Waldhäusl, für Asylfragen zuständige­s Mitglied der niederöste­rreichisch­en Landesregi­erung. Waldhäusl ließ in Drasenhofe­n an der tschechisc­hen Grenze jugendlich­e Flüchtling­e in einem Quartier hinter Stacheldra­ht festsetzen. Waldhäusl rechtferti­gte die Maßnahme im NS-Jargon: Es handele sich um „notorische Unruhestif­ter“, die einer „Sonderbeha­ndlung“unterzogen werden müssten. Diese Darstellun­g hielt einer Überprüfun­g freilich nicht stand, das Stacheldra­htquartier musste geschlosse­n werden. Entlassen wurde er nicht, um die schwarz-blaue Harmonie zwischen Heinz-Christian Strache Vizekanzle­r (FPÖ) Kurz und Strache nicht zu beeinträch­tigen.

Strache verniedlic­hte den Skandal einmal mehr als „Einzelfall“, den eine „linke Hexenjagd“aufbausche; Waldhäusl sei keineswegs ein Neonazi. Das hat Methode: Die „Einzelfäll­e“sind codierte Botschafte­n, um der rechten Szene regelmäßig zu signalisie­ren, dass die FPÖ auch als Regierungs­partei deren politische Heimat bleibe. Auch Strache-Intimus Herbert Kickl, seines Zeichens Bundesinne­nminister, ist bekannt für seine Code-Sprache: Er wolle, kündigte er an, Asylwerber an einem bestimmten Ort „konzentrie­rt halten“.

Die schikanöse Flüchtling­spolitik führte bereits zu Protesten innerhalb von Kurz’ eigener Partei. Sie richten sich besonders gegen die Abschiebun­g von Lehrlingen mitten in ihrer Ausbildung oder von jungen Ausländern, die bereits einen Arbeitspla­tz haben, was auch in der an Fachkräfte­mangel leidenden Wirtschaft auf Unverständ­nis stößt. Überhaupt ist der Eindruck entstanden, die Mittel für Integratio­n würden allein deshalb gekürzt, weil dies bei der Bevölkerun­g gut ankommt.

Kurz überzeugte bislang mehr als smarter Kommunikat­or, der er schon im Wahlkampf war, als mit politische­n Reformen, die das Land „erneuern“sollen, wie er vollmundig versprach. Eines der großen Themen war die Reform des Sozialvers­icherungss­ystems, die von der Opposition als Flickwerk verrissen wurde. Auch Experten des Rechnungsh­ofs bezweifeln stark, ob die Regierung das Verspreche­n halten kann, eine Milliarde Euro einzuspare­n. Vom großen Reformwurf, einem schlanken Staat, sind bislang nicht einmal Ansätze sichtbar, die gute Konjunktur schwächte den Druck ab.

Doch demonstrie­rten die Gewerkscha­ften bereits, nun die noch schwache Opposition zu ersetzen. Erstmals seit Jahren kam es während Tarifverha­ndlungen zu Warnstreik­s, begleitet von viel Klassenkam­pfrhetorik. Auf Dauer sehen Experten den sozialen Frieden gefährdet, für den Österreich innerhalb der EU vielfach beneidet wird.

Da bin ich selbst überrascht, wie schnell und toll wir arbeiten“

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