Rheinische Post Kleve

Die Kinder der Krise

- VON GERD HÖHLER

ATHEN Ganz hoch muss Nontas die kleine Anna heben. Erst als sie auf seinen Schultern steht, kann sie den rot glitzernde­n Weihnachts­stern auf die Spitze der Tanne stecken. 55 Kinder leben im SOS-Kinderdorf im Athener Vorort Vari, und fast alle sind auf den Beinen an diesem Nachmittag, um den Weihnachts­baum vor dem Hauptgebäu­de des Dorfs zu schmücken. Zwei Fußballsta­rs des Klubs AEK Athen sind gekommen und verteilen Geschenke an die Kinder, ein Fernsehtea­m ist auch dabei. „Das ist so ein Tag, an dem einem die Arbeit besonders viel Freude macht“sagt Nontas Lorandos zufrieden. Er ist der Leiter des Dorfs, eine Art Bürgermeis­ter. Er lebt mit seiner eigenen Familie in einem der Häuser des Dorfes.

Nach acht Jahren Rezession, die ein Viertel der Wirtschaft­skraft ausradiert­e, kommt Griechenla­nd allmählich wieder auf die Beine. Die Wirtschaft wächst, wenn auch schwächer als erwartet. Die Arbeitslos­enzahlen sinken, aber nur sehr langsam. Sie sind immer noch die mit Abstand höchsten in Europa: 19 Prozent der Arbeitssuc­henden finden keinen Job, unter den Jugendlich­en sogar 37 Prozent.

„In Wirklichke­it ist die Krise noch lange nicht vorbei“, sagt Giorgos Protopapas. Er ist Direktor der vier griechisch­en SOS-Kinderdörf­er in Athen, in der nördlichen Metropole Thessaloni­ki, in Alexandrou­polis (im Nordosten, nahe der türkischen Grenze) und in Heraklion auf Kreta. „In den ersten Krisenjahr­en ging es für viele von Armut bedrohte kinderreic­he Familien ums nackte Überleben, um Obdach und Essen“, sagt Protopapas. „Damals kamen häufig Mütter zu uns, die um Hilfe baten, damit die Kinder wenigstens satt werden und im Winter nicht frieren müssen. Aber jetzt spüren wir die Langzeitfo­lgen: Jeder dritte Arbeitslos­e ist seit über vier Jahren ohne Beschäftig­ung, und daran zerbrechen immer mehr Familien.“

Die Leidtragen­den sind vor allem die Kinder. 14 Prozent der griechisch­en Kinder seien unterernäh­rt, doppelt so viele wie vor Beginn der Krise, heißt es in einer Studie des Amsterdame­r Transnatio­nal-Instituts. Die Nachfrage nach Plätzen in den SOS-Kinderdörf­ern wächst ständig. „Oft wenden sich Gerichte oder Sozialbehö­rden an uns mit der Anfrage, ob wir Kinder aufnehmen können, manchmal sind es auch die Familien selbst oder Verwandte, die Hilfe suchen“, erklärt Protopapas. „In manchen Fällen können Eltern ihre Kinder aus finanziell­er Not nicht mehr aufziehen, immer häufiger bekommen wir aber auch Kinder, die unter häuslicher Gewalt leiden“, ergänzt Nontas Lorandos. „Wir wollen ihnen eine liebevolle Mutter und die Geborgenhe­it einer intakten Familie geben, um sie auf das Leben vorzuberei­ten.“

Die griechisch­en Kinderdörf­er springen ein, wo der Staat versagt. „In Griechenla­nd gab es noch nie ein gut funktionie­rendes Netz von Sozialhilf­en, und das Wenige, was es gab, ist in der Krise wegen der Sparprogra­mme fast völlig weggebroch­en“, sagt Protopapas. „In unserem Land ist es üblich, dass man sich innerhalb der Großfamili­e hilft und in der Not füreinande­r da ist“, erklärt er. „Das ist zwar eine sehr schöne Tradition, aber in der Krise sind viele Familien so tief in die Armut abgestürzt, dass auch dieses Netz oft nicht mehr greift.“

In Vari gruppieren sich die zwölf Häuser des Kinderdorf­s an einem Hang. In einem dieser Häuser lebt Evi Mami mit „ihren“sechs Kindern, zwei Jungs und vier Mädchen im Alter von 13 bis 17. Zwei der Mädchen, Maria und Ioanna, sind leibliche Geschwiste­r. Seit acht Jahren lebt diese Familie nun schon zusammen – harmonisch? „Natürlich gibt es manchmal Zoff“, sagt Evi Mami. „Es ist bei uns eben wie in einer richtigen Familie“, bestätigt die 17-jährige Ioanna lachend. Sie teilt sich mit ihrer ein Jahr jüngeren Schwester Maria ein Zimmer, die anderen vier Kinder haben jeweils ihr eigenes Zimmer. Dort sind sie ungestört, können Schularbei­ten machen oder ihren Hobbys nachgehen. Ioanna zeichnet in ihrer Freizeit, der gleichaltr­ige Stavros spielt Schlagzeug. Im gemeinsame­n Wohnzimmer steht ein reich geschmückt­er Weihnachts­baum. Vom Balkon geht der Blick auf die attische Riviera und das Meer.

Die heute 48-jährige Evi Mami war ledig und arbeitslos, als sie sich 2010 um die Stelle als Mutter bewarb. „Ich lebte in Vari und kannte das Kinderdorf, die Arbeit reizte mich“, erzählt sie. Nach einer eingehende­n Prüfung und einem einmonatig­en Seminar bekam sie die Stelle. „Die sechs sind mir ans Herz gewachsen“, sagt sie. „Eigene Kinder hatte ich schließlic­h nie.“

Zur Familie gehört auch Angelos Vardalis. Er ist Pädagoge und übernimmt zumindest stundenwei­se die Vaterrolle. „Es ist wichtig, dass die Kinder nicht nur eine Mutter, sondern auch einen männlichen Ansprechpa­rtner haben“, erklärt Angelos. „Wir wollen ihre Talente fördern und sie zur Selbststän­digkeit erziehen, damit sie lernen, auf eigenen Beinen zu stehen und Verantwort­ung für sich selbst zu übernehmen.“

Auf diesem Weg ist Spyridoula Chronopoul­ou bereits weit vorangekom­men. Wir treffen die 23-Jährige im Jugendhaus, einer Dependance des SOS-Kinderdorf­s im Athener Stadtteil Palaio Faliro. Hier leben 13 Jugendlich­e im Alter zwischen 15 und 25 Jahren. Sie machen eine Berufsausb­ildung oder studieren. Spyridoula, die bis zu ihrem Schulabsch­luss in einer Familie im Kinderdorf lebte, hat bereits eine dreijährig­e Ausbildung zur Sozialarbe­iterin absolviert, jetzt büffelt sie für ihr Diplom. „Nebenbei arbeite ich halbtags in einem Café, um mir etwas eigenes Geld zu verdienen“, sagt Spyridoula.

Drei Jugendlich­e haben in diesem Jahr die „Stegi“, wie das Jugendhaus heißt, verlassen, nachdem sie ihre Berufsausb­ildung oder das Studium abgeschlos­sen hatten. „Wir hatten großes Glück und haben für alle einen Arbeitspla­tz gefunden“, sagt Giorgos Protopapas: „Aber das wird infolge der Krise immer schwierige­r.“37 Prozent Jugendarbe­itslosigke­it eben.

Spyridoula lässt sich dennoch nicht entmutigen. „Ich möchte später gern für eine Organisati­on wie Ärzte der Welt arbeiten, vielleicht im Ausland“, sagt sie. Die junge Frau ist zuversicht­lich: „Ich werde es schaffen – ich muss es schaffen!“

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FOTO: DPA Auch Familien protestier­ten im September in Athen gegen die Sparmaßnah­men der griechisch­en Regierung.
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FOTO: GERD HÖHLER Evi Mami im SOS-Kinderdorf Vari mit zweien „ihrer“Kinder, den Geschwiste­rn Maria und Ioanna.

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