„Eltern sollten genau hinschauen“
Der Viersener Kinderpsychotherapeut kennt die seelischen Nöte von Heranwachsenden.
VIERSEN Die Zahl der Menschen, die aufgrund psychischer Erkrankungen zum Arzt gehen, steigt. Im Jahr 2000 lag laut Bundespsychotherapeutenkammer der Anteil der Krankheitstage im Beruf aufgrund psychischer Ursachen bei sieben Prozent. 2016 waren es bereits 14,7 Prozent. Psychische Erkrankungen betreffen aber nicht nur Erwachsene. Bernhard Moors arbeitet seit mehr als 20 Jahren als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in Viersen. Im Interview beschreibt der 62-Jährige die seelischen Nöte junger Menschen.
Aus welchen Gründen kommen Kinder und Jugendliche in Ihre Praxis?
BERNHARD MOORS Gerade komme ich von einem Termin in einer Schule wegen eines zehnjährigen Kindes. Das hat Wutausbrüche und will nicht in die Schule gehen. Es kommen momentan Kinder zu mir, die beißen, treten und schlagen, andere werden gemobbt, haben Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Ein elfjähriges Kind sagte, es wolle nicht mehr leben. Dann habe ich gerade Kinder mit Schlafstörungen, Essstörungen, Depressionen, Ängsten und mangelnden Sozialkontakten in Behandlung. Missbrauch ist selten ein Anmeldegrund, sondern wird eher während der Therapie aufgedeckt.
Das klingt dramatisch.
MOORS Ja, das ist auch dramatisch, denn hier geht es nicht um Befindlichkeitsstörungen, sondern um Schicksale. Das war auch vor 20 Jahren schon so.
Haben Kinder und Jugendliche Störungen, die Erwachsene nicht haben?
MOORS Grundsätzlich nein, sie stellen sich häufig nur anders dar. Kinder und Jugendliche geraten schneller aus dem Gleichgewicht. Das gestörte Gleichgewicht kann nach einer kurzen Zeit wiederhergestellt und eine Krise überstanden sein. Es kann aber auch sein, dass Kinder und Jugendliche kritische Situationen ihrer Entwicklung nicht so gut verarbeiten. Das kann zu großen Belastungen und damit zu seelischen Störungen und Erkrankungen führen, die nicht von selber heilen. Wichtig ist, dass wir scharf unterscheiden: Ist das eine krankheitswürdige Störung oder geht es um einen sogenannten normalen Entwicklungskonflikt des Kindes?
Sie arbeiten seit über 20 Jahren als Kinder- und Jugendtherapeut. Haben sich die seelischen Nöte Ihrer Patienten verändert?
MOORS Es gibt heute eine wesentlich höhere Akzeptanz für psychische Krankheiten, das gilt auch für Kinder und Jugendliche. Während es früher oft peinlich war, zum Psychotherapeuten zu gehen, weil man dann als verrückt galt, sehen Kinder heute eher positiv, dass da eine Instanz jenseits von Elternhaus oder Schule versucht, ihre seelischen Nöte zu verstehen. Heute Morgen in der Schule kamen auch die anderen Kinder zu mir gerannt, das betroffene Kind konnte fast damit angeben. Psychische Krankheiten werden früher erkannt, genauer diagnostiziert und fachgerechter behandelt. Aber es gibt auch gesellschaftliche Veränderungen, die die Zahl der psychischen Störungen haben steigen lassen.
Welche Veränderungen sind das? MOORS Die Individualisierung der Gesellschaft hat viele Vorzüge, aber auch einige Nachteile. Großfamilien oder Nachbarschaften sind nicht mehr in dem Maße da wie früher. In einer Kleinfamilie oder bei Alleinerziehenden ist bereits der normale Tagesablauf anstrengend. Wenn die Eltern durch ihre Arbeit gebunden sind, wird schon die Beaufsichtigung und Betreuung der Kinder schwierig.
Gibt es gewisse Moden, was sich Jugendliche antun?
MOORS Auffällig viele ältere Kinder und Jugendliche verletzen sich selbst, in sehr unterschiedlicher Form. Einige schneiden oder ritzen sich, andere reißen sich die Haare raus, knabbern sich die Nägel blutig ab bis auf die Fingerkuppen, schlagen mit dem Kopf auf den Boden oder gegen die Wand. Selbstverletzung ist ein Hinweis darauf, dass sie Schwierigkeiten haben, die sie überfordern.
Ab wann ist es sinnvoll, zu Ihnen zu kommen?
MOORS Nicht jede Auffälligkeit ist Hinweis auf eine seelische Erkrankung. Aber wenn es über einen längeren Zeitraum geht, plus minus ein halbes Jahr, dann empfehle ich, das abzuklären. Besser einmal zu viel abgeklärt als einmal zu wenig. Eltern werden auch häufig verunsichert durch Medien und Verwandte und Bekannte. Da sagen andere Eltern schon mal: Hatte mein Kind auch, geh mal lieber zum Psychotherapeuten. Dabei hat dasselbe Verhalten nicht unbedingt dieselbe Ursache.
Schleppen Eltern ihre Kinder eigentlich häufig zu früh zum Therapeuten?
MOORS Ich habe Ihnen ja vorhin Gründe genannt, aus denen Kinder und Jugendliche zu mir kommen und eine Psychotherapie machen. Ebenso gibt es aber Kinder und Jugendliche, die keine Psychotherapie benötigen, weil es sich beispielsweise lediglich um einen gelegentlichen Wutausbruch handelte und eventuell auch der Anlass
erkennbar war. Aber es ist nicht so, dass immer mehr Eltern viel zu früh mit ihren Kindern in meine Praxis kommen. Eine frühe Abklärung ist auch eine Art Prävention. Eher habe ich den Eindruck, dass einige Eltern viel zu spät kommen. Von zehn Anmeldungen brauchen drei keine Therapie, bei ein bis zwei Fällen müssen wir über eine stationäre Behandlung nachdenken, die anderen brauchen eine mittel- bis langfristige Therapie. Denken noch immer alle Eltern, ihr Kind habe ADHS?
MOORS Diese Zeiten gab es. Da galten fast alle Kinder als ADHS-Patienten, die verhaltensauffällig waren. Das ist zum Glück wieder etwas rückläufig, auch weil wir Psychotherapeuten immer wieder informiert haben. Die Eltern sollten genau hinschauen. Es reicht nicht, wenn sich das Kind nur in der Schule auffällig verhält, aber zuhause oder im Musikorchester oder Sportverein nicht.
In unserer Gesellschaft muss man möglichst funktionieren. Dürfen Kinder noch in Ruhe trauern oder gelten sie schon nach vier Wochen als depressiv?
MOORS Das scheint in einzelnen Fällen tatsächlich so zu sein, ohne dass ich dazu wissenschaftliche Untersuchungen kennen würde. Da betrachte ich mit Sorge, was uns aus den USA mit den neuen Diagnostikkriterien ins Haus schneit. Das Kriterium für eine nichtbearbeitete Trauer soll von bisher sechs Monaten auf 14 Tage reduziert werden. Danach würde man bereits von einer Depression sprechen. Das halte ich für schwierig. Das ist, als wenn man einem Kind sagt, das mit drei Jahren und zwei Monaten noch nicht trocken ist: Du bist ein Einnässer.