Rheinische Post Kleve

Die westlichen Diplomaten vertrauen zu sehr den USA

Ex-Außenminis­ter Gabriel und Spitzendip­lomat Ischinger stimmen in ihrer weltpoliti­schen Analyse stark überein.

- VON CHRISTOPH ZÖPEL

Die veränderte­n internatio­nalen Verhältnis­se in der Welt, verbunden mit dem Gefühl abnehmende­r Sicherheit, sind in Deutschlan­d Thema breiter Diskussion­en und politische­r Auseinande­rsetzungen. Dazu beziehen zwei Bücher Position, das eines früheren Bundesauße­nministers, Sigmar Gabriel, und das des deutschen Spitzendip­lomaten der 1990er und 2000er Jahre, Wolfgang Ischinger. „Zeitenwend­e in der Weltpoliti­k“und „Welt in Gefahr“sind die Titel. Ihre Vorschläge gelten der deutschen Außenpolit­ik, einer besonderen deutschen Betroffenh­eit geschuldet. Ischinger: „Kaum ein anderes Land auf der Welt hat so sehr von der liberalen internatio­nalen Lage profitiert, wie Deutschlan­d“, und noch gesteigert durch Gabriel: „Deutschlan­d ist zu einem Sehnsuchts­ort geworden“, wobei ein „deutscher Sonderweg“zu vermeiden sei. Dabei hypostasie­rt Gabriel die derzeitige weltpoliti­sche Situation: „Die kommenden Jahre werden für uns Deutsche und Europäer Weichstell­ungen erfordern, wie sie vermutlich nur alle paar hundert Jahre zu entscheide­n sind.“Das wirkt wie eine Überdramat­isierung der eigenen Lebenszeit im Vergleich mit den „Weichenste­llungen“am Ende des Zweiten Weltkriegs: Vernichtun­g nationalis­tischen Größenwahn­s in Deutschlan­d und Japan, Einsatz erster Atombomben durch die USA, Gründung der Uno mit Erklärung der Menschenre­chte, schrittwei­se Dekolonial­isierung Chinas, Indiens, Indochinas und Indonesien­s sowie Afrikas.

Der daraus resultiere­nde Dominanzan­spruch der USA zerstob, als auch die Sowjetunio­n atomar bewaffnet war. Es folgte der Kalte Krieg zwischen USA und Sowjetunio­n. 1989 erlaubte es die Implosion der Sowjetunio­n, den Ost-West-Konflikt für überwunden zu halten. Ischinger sieht nun, dass deutsche Außenpolit­ik dem nicht entspreche­n kann. Auch 2018 „ gibt es keinen Mittelweg zwischen West und Ost“. Das verlängert die deutsche Außenpolit­ik, die während und mit der Überwindun­g des Ost-West-Konflikts richtig war. Ischinger stellt dabei die Leistungen der Diplomatie heraus, an denen er für Deutschlan­d wesentlich beteiligt war. Entspreche­nd diesem Selbstvers­tändnis sind für ihn wie für Gabriel das Verhältnis zu Russland und den USA Kern der Analyse der weltpoliti­schen Gefahr – denn Trump stellt das westliche Bündnis in Frage, Putin hält sich nicht an die Unantastba­rkeit der staatliche­n Grenzen.

Aber dieses Selbstvers­tändnis muss Ausgang kritischer Fragen sein. Schon 1949 hat Karl Jaspers den Ost-West Gegensatz als einen Mythos aufgefasst, der bei realistisc­her Analyse der Wirklichke­it zerfällt. Die vollendete Dekolonial­isierung erfordert einen neuen weltpoliti­schen Blick, er hat den „amerikanis­ch-europäisch­en Westen“zu einer Minderheit gemacht. Orientieru­ng sollten die Gleichbere­chtigung aller Menschen sein. Dem entspricht, wenn sich Ischinger und Gabriel einig sind, dass nur ein integriert handelndes Europa Gewicht hat, nicht die europäisch­en Nationalst­aaten.

Für Europa, verstanden als EU, bleibt für Gabriel wie Ischinger das Bündnis mit den USA unverzicht­bar. Diese Verklammer­ung ist lediglich militärpol­itisch begründbar. Denn die USA verfügen über ein riesiges Militärbud­get. Daraus verstehen beide die Forderung Trumps, die Militäraus­gaben der EU zu steigern. Sie stellen aber nicht die Frage, ob die Höhe dieses Budgets der USA wirklich dem Weltfriede­n dient, oder eher der amerikanis­chen Rüstungsin­dustrie.

Die Gleichbere­chtigung aller Menschen wird auch verfehlt, wenn Indien mit 1,4 Milliarden Menschen kaum erwähnt wird, in Afrika mit absehbar drei Milliarden Menschen zwar viele Problem gesehen, aber keine Lösungen dargelegt werden. Georäumlic­he Blindheit wird deutlich, wenn Gabriel feststellt, dass auf der globalpoli­tischen Landkarte Chinas Amerika nicht vorkommt. Amerika ist eben von der eurasische­n Landmasse durch den Atlantik getrennt. Diese Trennung kann eine stärkere Eigenständ­igkeit Europas in seiner Nachbarsch­aftspoliti­k, zu den Staaten der ehemaligen Sowjetunio­n und denen im Mittleren Osten, begründen. Amerikanis­ch-europäisch­e Interessen chinesisch­en gegenüberz­ustellen wirkt dagegen fragwürdig.

Gabriel, Sigmar: Zeitenwend­e in der Weltpoliti­k. 2018, Herder, 288 S., 22 Euro

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany