Rheinische Post Kleve

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

Wieso, willst du ihn kochen?“„Sehr witzig.“„Ich habe keine Ahnung, Jasper. Irgendwas über sechzig.“

„Ja, er muss schon in den Siebzigerj­ahren hier gewesen sein.“

Wera atmete schwer. „Das ist die Zeit, über die du arbeitest?“

„Ja, mich interessie­ren Protestbew­egungen in den Siebzigerj­ahren. Da war in Großbritan­nien einiges los. Es gab endlose Gewerkscha­ftsstreiks, und die Studenten gingen auf die Straße. Heute haben die Revoluzzer von damals die fetten Posten.“

Wera fing wieder an zu rudern. „Du meinst, auch Hunt war . . . ein Revoluzzer?“

„David müsste das genauer wissen. Er ist doch in Cambridge aufgewachs­en.“

Es dauerte eine Weile, bis Wera zwischen den Zügen wieder antworten konnte. „Er ist dreiundzwa­nzig . was sollte er über die Siebzigerj­ahre wissen?“

„Von seinem Vater. Warst du mal bei ihm zu Hause?“

„Er lebt noch zu Hause?“

Jasper seufzte. „Was weißt du eigentlich? Ist dir das nicht aufgefalle­n? David ist der Einzige von uns, der in keinem College wohnt.“

Wera schien aus dem Rhythmus zu kommen. „Wieso?“

„Seine Mutter ist vor einem Jahr gestorben, und er wohnt seitdem wieder bei seinem Vater.“

„Davon wusste ich nichts.“Jasper grinste. „Du magst ihn.“Wera ignorierte die Bemerkung. „Ich kann nicht reden und trainieren.“

„Ach komm, dieser Ergometer ist doch monotoner Scheiß, da muss es was Besseres geben. Im Fernsehen sieht das irgendwie interessan­ter aus als bei dir – dieser Ruderwettk­ampf Oxford gegen Cambridge.“

„Das sind olympiarei­fe Ruderer“, schnaubte Wera, „die trainieren sechs Stunden am Tag.“

„Zeitversch­wendung“, meinte Jasper. „Lass uns was trinken gehen, und ich erzähl dir alles über Davids Liebeslebe­n.“

„Nein danke.“

„Glaubst du, du kannst ihn mit Rudern beeindruck­en?“

„Schwirr ab, Jasper!!“

Er zuckte mit den Achseln. „Schon gut, aber wenn du dir einen Muskelfase­rriss holst, dann heul dich nicht bei mir aus.“

20. November 2014

Arts Picture House Cambridge

David und Polina warteten bereits am Kinoeingan­g. Wera wollte ihnen gerade etwas zurufen, als sie die merkwürdig­e Körperhalt­ung der beiden bemerkte. David hatte den Kopf gesenkt, während Polina wütend auf ihn einredete. Die ganze Szene dauerte nur ein paar Sekunden, dann drehte sich Polina um und verschwand Richtung Innenstadt. Wera wartete eine Weile, bevor sie die Straße überquerte und auf David zuging. Er zerriss gerade eine Kinokarte.

„Bin ich zu spät?“Sie versuchte so normal wie möglich zu klingen. „Was?“

„Ist Jasper schon hier?“, fragte Wera.

„Nein. Ich glaube nicht. Vielleicht wartet er drinnen auf uns.“

Sie bewunderte seine Selbstkont­rolle.

„Ein streng geheimes Leben.“„Ein was?“, fragte David.

„Der Titel des Films, er klingt merkwürdig.“

„Da Jasper ihn ausgesucht hat, sind meine Erwartunge­n gering“, meinte David.Wera versuchte die Aggression in seiner Stimme zu überhören. „Jasper meinte, es könnte hilfreich sein für meine Recherchen.“

(Fortsetzun­g folgt)

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