Erst 30 und schon pleite
Daniel Schneider aus Düsseldorf hat 20.000 Euro Schulden und ist privatinsolvent. Menschen wie ihm helfen Schuldnerberatungen.
DÜSSELDORF Alles fing mit einer Playstation 2 an. Die kaufte sich Daniel Schneider kurz nach seinem 18. Geburtstag. Erst kamen Spiele hinzu, später ein Handy mit Vertrag. Volljährigkeit bedeutete für ihn unbegrenzten Konsum. „Wenn ich ein neues Handy haben wollte, habe ich es mir eben bestellt.“Geld dafür hatte er nicht. So kamen erst Rechnungen per Post, dann Mahnungen. „Ich habe die Briefe einfach weggeworfen. Ich war so naiv zu denken, es würde irgendwann aufhören“, sagt er heute – zwölf Jahre und 20.000 Euro Schulden später.
Der 30-Jährige sitzt in einer dunklen Wohnung in einem Mehrfamilienhaus im Norden von Düsseldorf. Sein richtiger Name soll geheim bleiben. Auf dem Küchentisch liegen Medikamentenverpackungen, daneben steht ein Aschenbecher. Auf dem Boden schläft seine französische Bulldogge. An der Wand klebt ein Wandtattoo mit einem Zitat von Oscar Wilde: „Man umgebe mich mit Luxus. Auf alles Notwendige kann ich verzichten.“Luxus ist Schneider fremd, Verzicht kennt er aus eigener Erfahrung. Einen Handyvertrag abschließen? Unmöglich. Eine Wohnung anmieten? „Keine Chance, wenn der Vermieter meine Schufa-Auskunft sieht.“
Vor zwei Jahren zog Schneider wieder bei seiner Mutter ein. „Ich habe nicht genug Geld, um seine Schulden abzubezahlen, aber helfe wo ich kann“, sagt sie. „Sonst wäre er auf der Straße gelandet.“Seine Freunde wussten lange Zeit nichts von den Schulden. „Ich hatte immer Ausreden, wieso ich nicht mitkommen kann“, sagt der 30-Jährige. „Es ist nicht leicht zuzugeben, dass man kein Geld hat. Als meine Ex-Freundin von den Schulden erfuhr, hat sich mich verlassen.“
Die Lage des Düsseldorfers ist kein Einzelfall: Dem „Schuldenatlas 2018“der Wirtschaftsauskunftei Creditreform zufolge ist mehr als jeder zehnte Erwachsene in Nordrhein-Westfalen überschuldet. Das bedeutet, Schulden zu haben und die Ausgaben auf lange Sicht nicht mit Einkommen und Vermögen decken zu können. Eine Verschuldung liegt hingegen bereits vor, wenn nur ein kleiner Betrag zurückzuzahlen ist. Mit einer Überschuldungsquote von 11,69 Prozent liegt NRW laut dem „Schuldenatlas“deutlich über dem Bundesdurchschnitt (10,04 Prozent). Schlechter schnitten nur Berlin, Sachsen-Anhalt und Bremen ab. Am niedrigsten ist die Quote in Bayern (7,47). Die nordrhein-westfälische Stadt mit der höchsten Überschuldungsquote ist Wuppertal mit 18,42 Prozent. Auch Duisburg (17,20), Mönchengladbach (16,36) und Solingen (14,85) sind betroffen. Bundesweit sind demnach fast sieben Millionen Menschen überschuldet.
Daniel Schneider bekam mit der Zeit weiterhin Briefe, allerdings nicht mehr von Online-Shops, sondern von Inkassounternehmen und der Staatsanwaltschaft. 2016 lag sogar ein Haftbefehl gegen ihn vor: Die Polizei stand vor der Tür und brachte ihn für vier Tage ins Gefängnis – eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe, weil er Rechnungen nicht begleichen konnte. „In dem Moment habe ich gedacht: So kann es nicht weitergehen“, sagt Schneider. „Ich brauche Hilfe.“
Kurze Zeit später ging er das erste Mal zur Schuldnerberatung der Verbraucherzentrale Düsseldorf. „Er kam mit einem riesigen Stapel an Briefen“, erinnert sich Schuldenberaterin Bettina Seidel. „Es hat Monate gedauert, überhaupt erst einmal alle Gläubigerforderungen zu sammeln.“Einige davon waren bereits verjährt, bei anderen rückten die Gläubiger von ihren Forderungen ab: zu groß der bürokratische Aufwand im Verhältnis zur ausstehenden Summe. Zwölf Gläubiger blieben.
Als erste Maßnahme bekam Schneider Pfändungsschutz: 2015 hatte er in Köln eine Ausbildung zum Koch begonnen und verdiente zu wenig, um die Schulden abzubezahlen. Sein Chef wusste von den Schulden. „Ich habe ihm davon erzählt, als ich ins Gefängnis musste“, sagt er. „Ich hatte Angst, meine Stelle
zu verlieren.“Sein Chef bot ihm an, zusätzliche Schichten am Wochenende zu arbeiten. Doch bereits der Arbeitsalltag setzte ihm zu: „14-Stunden-Tage bis 3 Uhr nachts waren keine Seltenheit. Der ständige Druck hat mich so belastet, dass ich zu Alkohol und Drogen gegriffen habe.“Wenn Schneider über seine Drogenprobleme spricht, knetet er unsicher seine Hände. Im Frühjahr dieses Jahres war er fertig ausgebildet – und erneut arbeitslos. Seitdem bekommt er Krankengeld. Im August machte er einen Entzug, aktuell steht er auf der Warteliste für eine stationäre Therapie.
„Viele Menschen geraten wegen einer Krankheit in die Überschuldung“, sagt Beraterin Bettina Seidel. Nach Angaben der Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände (AG SBV) zählen zudem Arbeitslosigkeit, Trennung und Tod des Partners zu den häufigsten Ursachen für Schulden. Doch auch das Kaufverhalten und gescheiterte Selbstständigkeit sind entscheidende Faktoren. Der 30-Jährige sei jünger als der Durchschnitt, sagt Seidel, doch es gebe immer mehr junge Verschuldete. „Das liegt auch daran, dass heutzutage 0-Prozent-Finanzierungen beworben werden.“
In seinem Fall sah die Schuldenberaterin nur noch einen Ausweg: ein Privatinsolvenzverfahren. Sechs Jahre lang soll Schneider nun keine Schulden mehr machen, muss Einkommen und Vermögen gegenüber einem Insolvenzverwalter offenlegen und ist verpflichtet, zu arbeiten oder Arbeit zu suchen. Der pfändbare Einkommensteil wird vom Insolvenzverwalter einbehalten und an die Gläubiger verteilt. Dann ist er wieder schuldenfrei.
Sechs Jahre warten? Das will er nicht. „Es ist ein schlechtes Gefühl, Schulden zu haben und einfach nur zu warten, bis sie verschwinden – auch wenn es verlockend ist“, sagt Daniel Schneider. Nach der Therapie will er wieder arbeiten, am liebsten in der Lebensmittelbranche. Alle drei Monate geht es zur Schuldnerberatung, besucht außerdem eine Selbsthilfegruppe. „Ich habe die Schulden gemacht. Also habe ich auch die Pflicht, sie abzubezahlen“, sagt er.