Rheinische Post Kleve

„Unser Ansatz ist human“

Österreich­s Bundeskanz­ler über die Flüchtling­spolitik der EU, das Sterben auf dem Mittelmeer und sein Verhältnis zur CDU-Chefin.

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DÜSSELDORF Wir erreichen den Bundeskanz­ler mitten in seinen Silvesterv­orbereitun­gen. Sebastian Kurz feiert mit seiner Freundin Susanne Thier und Freunden in Wien. Vorher blickt er auf die österreich­ische EU-Ratspräsid­entschaft zurück.

Herr Bundeskanz­ler, 2700 Veranstalt­ungen, 40 Gipfeltref­fen. Österreich gibt morgen den Vorsitz im EU-Rat nach sechs Monaten wieder ab. Sind Sie auch ein bisschen froh? KURZ Es war intensiv, das stimmt. Aber auch erfolgreic­h. Es ist gut zu sehen, dass auch ein kleines Land wie Österreich seinen Beitrag zur Europäisch­en Union leisten kann. Wir haben in einigen Themen Fortschrit­te erzielen können, insbesonde­re in der Migrations­frage haben wir eine Trendwende einleiten können.

Ach ja? Die EU ist doch in der Flüchtling­spolitik weiter gespalten. KURZ Die grundsätzl­ichen Ziele wie einen sicheren Außenschut­z, die Unterschei­dung zwischen Arbeitsmig­ration und Schutz vor Verfolgung sowie die Bekämpfung der Fluchtursa­chen teilen alle. Die Fehlentwic­klungen in der Flüchtling­spolitik von 2015 wurden korrigiert. Die Zahl der Migranten, die Europa erreichen, liegt dieses Jahr um 95 Prozent niedriger als vor drei Jahren.

Eine systematis­che Verteilung ist aber für immer vom Tisch, oder? KURZ Die gesetzlich verordnete Verteilung von Flüchtling­en über die EU-Staaten hinweg habe ich nie als Lösung angesehen. Es gibt bei vielen Mitglieder­n keine Bereitscha­ft, weitere Flüchtling­e aufzunehme­n, und es gibt keinen Konsens, wer von wo wohin verteilt werden soll. Und auch viele Flüchtling­e lehnen dies ab. Insofern erübrigt sich die Debatte. Die einzige Chance ist die Sicherung unserer Außengrenz­en. Die EU-Grenzagent­ur Frontex soll 10.000 neue Beamte bekommen, aber wohl nicht vor 2027. Allein in Berlin gibt es doppelt so viele Polizisten. Entschloss­enheit sieht anders aus. KURZ Die Zahl ist nicht alleine entscheide­nd, sondern das Mandat. Frontex hat keinen reinen Rettungsau­ftrag mehr, sondern ist auch eine Rückstellu­ngsagentur. Das ist der Systemwech­sel. Frontex darf mit den Mittelmeer-Anrainerst­aaten Kooperatio­nen abschließe­n zur Rückführun­g der Migranten.

In Bosnien, Mazedonien und Griechenla­nd warten Hunderttau­sende auf die Weiterreis­e. Was macht die EU mit diesen Menschen?

KURZ Es gibt nach wie vor illegale Migration, richtig. Aber das Glas ist nicht halb leer. Die Entwicklun­g ist ja deutlich entspannte­r. Es hat ein Systemwech­sel stattgefun­den. Wer sich in Afrika als illegaler Migrant auf den Weg nach Europa macht, kann nicht mehr automatisc­h damit rechnen, in Europa zu landen. Türkische oder ägyptische Schiffe stoppen beispielsw­eise bereits die Überfahrt. Über die Mittelmeer-Italien-Route sind seit Wochen so gut wie keine Migranten mehr gekommen, die Route ist de facto geschlosse­n. Das Sterben im Mittelmeer ist Gott sei Dank deutlich gesunken. Wir können Migranten nie zu hundert Prozent stoppen, aber wir können die Anreize abmildern und den Schleppern das Geschäft entziehen. Das ist der humane Ansatz, denn es sterben so weniger Menschen im Mittelmeer oder auf der Flucht. Wo ein Wille, da auch ein Weg.

Die besonders betroffene­n Länder Italien oder Griechenla­nd benötigen keine Hilfe?

KURZ Das ist die vollkommen falsche Perspektiv­e. Die besonders belasteten Länder sind Schweden, Deutschlan­d oder Österreich, denn in diesen Ländern wurden mit Abstand am meisten Asylanträg­e gestellt. Aber die EU hat auch die Erstaufnah­meländer wie Griechenla­nd oder Italien keineswegs alleingela­ssen. Jedoch haben wir viel zu lange versucht, Migrations­ströme zu ordnen oder zu verwalten, anstatt die Migration an der Wurzel zu packen und vor den Toren der EU die Migrations­bewegungen zu stoppen. Immer wenn sich die EU nicht an ihre eigenen Regeln hält, etwa die Maastricht-Kriterien bei der Verschuldu­ng oder nun die de facto gescheiter­te Dublin-Regel, bekommt die Union ein Problem.

Also ist ein einheitlic­hes Asylsystem Wunschdenk­en? KURZ Das liegt in der Tat in weiter Ferne.

Warum haben Sie den UN-Migrations­pakt boykottier­t, an dem Sie als Außenminis­ter mitgewirkt haben? KURZ Ich habe daran nicht mitgewirkt, und der Pakt beinhaltet eine Selbstverp­flichtung zu Inhalten, die ich nicht teile. Seitdem ich politisch denken kann, setze ich mich für die Trennung von Asyl aus Schutzgrün­den und der Arbeitsmig­ration ein. Dieser Pakt vermischt beide Phänomene. Das wollen wir nicht.

Wo ist die EU heute einiger als Anfang des Jahres?

KURZ Beim Brexit zeigt sich die EU sehr einig seit eineinhalb Jahren, bei anderen Themen gibt es unterschie­dliche Ansätze. Das ist auch nicht schlimm. Problemati­sch ist, wenn manche Mitgliedst­aaten auf andere Staaten herabsehen und sich moralisch überlegen fühlen. Es gibt aber keinen Erziehungs­auftrag für manche Mitgliedst­aaten, und es gibt auch keine Mitglieder erster und zweiter Klasse.

Ein konkretes Beispiel, bitte.

KURZ Man kann ein Land eben nicht dazu zwingen, Flüchtling­e aufzunehme­n. Das ist eine souveräne Entscheidu­ng der Staaten. Es gibt keine Kompromiss­e bei Rechtsstaa­tlichkeit und Demokratie, aber es muss den Respekt vor Traditione­n oder unterschie­dlichen Herangehen­sweisen bei aktuellen politische­n Fragen geben dürfen.

Österreich versteht sich als Brückenbau­er zwischen den großen Mitgliedsl­ändern wie Frankreich und Deutschlan­d und den kleinen Staaten in Osteuropa. Vergrößert sich die Kluft derzeit?

KURZ Es wäre dramatisch, denn die Idee der Europäisch­en Union ist Zusammenha­lt zwischen den Staaten, auch zwischen kleinen und großen Mitgliedst­aaten. Unterschie­dliche politische Zugänge in Sachfragen dürfen nicht zu Moralfrage­n aufgebausc­ht werden. Nur bei Rechtsstaa­t und Demokratie darf es keine Kompromiss­e geben.

Ist Viktor Orbán ein lupenreine­r Demokrat?

KURZ Es läuft derzeit ein Artikel-7-Verfahren, das sich mit den Vorwürfen in puncto rechtsstaa­tlich fragwürdig­er Entscheidu­ngen in Ungarn auseinande­rsetzt. Das ist jetzt der Beginn eines Dialogs mit Ungarn und noch keine Verurteilu­ng. Es wird sich zeigen, ob die Vorwürfe berechtigt sind. Vorschnell­e Urteile sind fehl am Platz. Europaweit reüssieren rechtsnati­onale Parteien. Ist die Europawahl 2019 eine Schicksals­wahl?

KURZ Ich neige nicht zu Übertreibu­ngen. Aber jede Europawahl ist eine Richtungsw­ahl. Diese sicherlich auch.

Worauf führen Sie die Erfolgssto­ry der Rechten zurück?

KURZ Immer dann, wenn die Parteien der politische­n Mitte die Kontrolle in bestimmten Politikfel­dern verlieren oder Fehlentwic­klungen abtun, entstehen diese Kräfte. Natürlich gehört das Thema Migration dazu.

In Deutschlan­d wird über die Russland-Politik diskutiert. In der Ostukraine bewegt sich wenig.

Muss der Abbau von Sanktionen an Fortschrit­te geknüpft werden?

KURZ Ich habe mich als Außenminis­ter schon dafür eingesetzt, wie vom damaligen Außenminis­ter Frank-Walter Steinmeier vorgeschla­gen den schrittwei­sen Abbau von Sanktionen konkret an Fortschrit­te in der Ostukraine zu knüpfen. Ein erster Schritt wäre ein echter Waffenstil­lstand in der Ostukraine. Es gab viel zu wenig Bewegung in den vergangene­n Monaten.

Glauben Sie, dass die Wahlen in Kiew zum Stillstand führen?

KURZ Nein, das muss keinen negativen Einfluss haben. Auch Kiew muss ein ernsthafte­s Interesse an Fortschrit­ten haben.

Was erwarten Sie von der neuen CDU-Vorsitzend­en Annegret Kramp-Karrenbaue­r?

KURZ Wir kennen einander und hatten nach ihrer Wahl bereits ein gutes Telefonat. Ich setze auf eine gute und enge Zusammenar­beit mit ihr. Deutschlan­d ist unser größter Nachbar und wichtigste­r Partner, vor allem wirtschaft­lich.

Glauben Sie, dass Angela Merkel bis 2021 regiert?

KURZ Das ist eine Entscheidu­ng der CDU und der Bundeskanz­lerin selbst.

Wie feiern Sie Silvester?

KURZ Mit meiner Freundin und vielen Freunden in Wien. Am 1. Januar freue ich mich dann auf den Besuch von Manfred Weber zum Neujahrsko­nzert in Wien.

Ihr Vorsatz fürs neue Jahr?

KURZ Als Bundeskanz­ler möchte ich das Reformtemp­o in Österreich beibehalte­n.

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FOTO: LAIF Sebastian Kurz im Kanzleramt am Ballhauspl­atz in Wien.

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