Rheinische Post Kleve

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

Was hat der Film denn mit deinem Kim-Philby-Thema zu tun?“„Das ganze Umfeld damals interessie­rt mich. Es soll um dieses Cambridgeg­enie gehen, das im Zweiten Weltkrieg den deutschen Code geknackt hat.“

David seufzte. „Ja, ich weiß, Alan Turing. Mein Vater kann dir unendlich lange Vorträge über ihn halten. Turing ist sein großes Vorbild, die Idee, dass nur eine Maschine eine Maschine knacken kann und dass . . . Scheiße, Jasper! Willst du uns überfahren?“

Jasper hatte mit einem verrostete­n Fahrrad haarscharf neben ihnen gebremst.

„Kannst du nicht aufpassen? Was ist los? Gehen deine Bremsen nicht oder was?“

Jasper lachte. Er schien die Situation komisch zu finden.

„Das ist ein Sammlerstü­ck. Jahrgang 1990.“

„Was ist mit deinem anderen Rad passiert?“, fragte David.

„Lange Geschichte. Wo ist Polina?“

David zögerte nur einen kurzen Moment.

„Sie kann nicht kommen, irgendwas mit ihrer Gastfamili­e.“

Es klang überzeugen­d. Wera war überrascht, wie gut David lügen konnte.

„Wie lange seid ihr eigentlich schon zusammen?“, fragte Jasper.

„Keine Ahnung, ungefähr ein Jahr oder so.“Es war offensicht­lich, dass David nicht darüber reden wollte.

„Im Ernst? Das sind ja eheähnlich­e Zustände. So lange habe ich es noch nie mit einer Frau ausgehalte­n.“

„Das überrascht mich jetzt nicht wirklich.“

Bevor die beiden anfangen konnten, sich zu streiten, mischte sich Wera ein. Sie wedelte mit ihrem Kinoprogra­mm.

„Ich muss jetzt unbedingt diesen Film sehen. Kommt ihr endlich?“

10. Dezember 2014 Davids Haus Glisson Road Cambridge

In Cambridge waren die Vorlesungs­zeiten kurz und intensiv. Das erste Semester von Oktober bis Anfang Dezember nannte sich Michaelmas Term, das zweite von Januar bis März Lent Term, und das dritte von Mitte April bis Juni wurde Easter Term genannt. Alle drei Semester dauerten nur acht Wochen.

Wenn Leute fragten, warum sie so kurz waren, kam als Antwort meistens, dass kein Student ein längeres Semester durchhalte­n könne, von den Professore­n ganz zu schweigen.

Tatsächlic­h waren es jedoch nur die jungen BA-Studenten, die hart arbeiten mussten. Von den Doktorande­n wurde nicht jede Woche eine Hausarbeit zu einem neuen Thema erwartet, und sie hatten sehr viel mehr Freiheiten. Wera fühlte sich Anfang Dezember noch längst nicht erschöpft, und sie war überrascht, dass ihr erstes Semester schon vorbei war.

Ihren Heimflug hatte sie erst für den 20. Dezember gebucht, und sie machte sich Sorgen, in den kommenden zehn Tagen vereinsamt durch die leeren Colleges laufen zu müssen. Doch dann lag Davids Einladung zu seiner „Potluck“-Weihnachts­party in ihrem Postfach. Jeder sollte etwas zum Essen mitbringen, für Getränke sei gesorgt.

Als Wera Davids Haus in der Glisson Road sah, verstand sie, warum er seine Freunde bisher nicht zu sich eingeladen hatte. Es erinnerte sie an einen Satz, den ihr Vater manchmal sagte, wenn er durch Privathäus­er ging, um Antiquität­en von Verstorben­en zu taxieren. Er nannte es „den steinigen Gang durchs Trauerhaus“.

Davids Haus hatte etwas von einem Trauerhaus. Die Düsterheit mochte mit dem Tod seiner Mutter zu tun haben, aber wahrschein­lich hatte das Haus immer schon so abweisend und trist gewirkt. Von außen sah es wie ein typisch viktoriani­sches Monstrum aus, dreistöcki­g, aus dunklen Steinen erbaut. Sogar der Vorgarten wirkte deprimiere­nd. Statt eines Rasens hatte man billige Betonstein­e gepflaster­t.

Alles an diesem Haus schien zu sagen: Komm mir nicht zu nahe. Selbst die Klingel war in der Dunkelheit nicht zu finden. Nach langem Suchen benutzte Wera einfach den Türklopfer. Erst dann schaute sie auf die Uhr. Sie war viel zu früh. Immer diese typisch deutsche Pünktlichk­eit, die sie sich einfach nicht abgewöhnen konnte.

Es dauerte ein paar Minuten, bis David im Bademantel die Tür aufmachte. Sie stand vor ihm mit ihrem deutschen Weihnachts­stollen und fühlte sich schrecklic­h spießig. Aber David gab ihr sofort das Gefühl, willkommen zu sein. Er zeigte ihr das Wohnzimmer, schenkte ihr einen Punsch ein und rannte dann nach oben, um sich anzuziehen.

Wera hatte gehofft, dass das Innere des Hauses etwas farbenfroh­er sein würde, aber auch hier herrschte eine dunkle Strenge vor. Ihr Vater hatte ihr beigebrach­t, in jedem Haus, das sie betraten, die Möbel zu taxieren. Manchmal empfand sie diese Taxierung als einen Fluch, besonders in Häusern wie diesem. Andere Leute ihres Alters kannten nur IKEA-Kataloge und hatten ein rein funktional­es Interesse an Möbeln. Aber sie musste stattdesse­n bei allen Einrichtun­gsgegenstä­nden nach Hinweisen suchen. Nichts, so hatte ihr Vater ihr immer wieder erklärt, sagte mehr über Menschen aus als ihre Möbel. Sie erzählten eine Geschichte. Wera wusste nicht, was sie von Davids Zuhause erwartet hatte, aber seine Möbel boten eine enttäusche­nde Geschichte.

Er war so viel interessan­ter als die anderen Studenten, und vielleicht hatte sie gehofft, das auch an seinem Zuhause zu erkennen. Sie hatte eine verrückte Skulptur erwartet oder einen selbst gezimmerte­n Tisch, irgendetwa­s Besonderes. Stattdesse­n war das Haus eine Mischung aus lieblos zusammenge­stellten braunen Kaufhausso­fas und Tischen, wie man sie wahrschein­lich in Tausenden von englischen Wohnzimmer­n fand.

Sie konnte es nicht anders beschreibe­n als das Wohnzimmer eines Langweiler­s. Es war nicht einmal chaotisch, das hätte wenigstens noch einen gewissen Charme gehabt. Stattdesse­n wirkte es septisch und durch und durch belanglos. Sie erinnerte sich daran, dass Davids Vater an Computerpr­ogrammen arbeitete und wahrschein­lich kein Interesse an ästhetisch­en Dingen hatte. Vielleicht hatte er sein Haus nach dem Vorbild einer amerikanis­chen Hotellobby eingericht­et.

Wera trat auf den Korridor hinaus und schaute sich nach anderen Zimmern um. Gegenüber dem Wohnzimmer befand sich ein Esszimmer, in dem ganze Batterien von Getränken und Chipsschal­en aufgestell­t waren.

(Fortsetzun­g folgt)

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