Rheinische Post Kleve

Fänger der Jugend

Vor 100 Jahren wurde der Autor Jerome D. Salinger geboren. Sein „Der Fänger im Roggen“ist bis heute das Buch für junge Leute.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

WASHINGTON Der Roman wird gerne eine „Bibel der Jugend“genannt oder das „Manifest einer Generation“. Das aber ist ein großes Missverstä­ndnis. Weil der „Fänger im Roggen“nichts lehrt und nichts lehren will. Holden Caulfield ist auch kein Messias, dem irgendwelc­he Jünger folgen sollen. Er ist bloß ein 17-Jähriger, der von der Schule fliegt und den das Leben drei Tage durchs vorweihnac­htliche, heimatlich­e New York spült. Es ist kalt in dieser Stadt, das heißt: in dieser Welt, und Holden fragt sich, wer sich bloß um die Enten im Central Park kümmert. Holden spricht mit verrückten Taxifahrer­n, verabredet sich mit Sally, die von ihm aber nur wissen will, ob er sie an Heiligaben­d besucht und mit ihr den Weihnachts­baum schmückt.

Holden treibt sich ein bisschen rum in der unbegreifl­ichen Stadt, trinkt auch etwas und kauft seiner kleinen Schwester die „Little Shirley Beans“-Platte, die er dann durchs halbe New York schleppt und die schließlic­h zu Bruch geht. Das ist nicht schrecklic­h viel an Handlung. Und die „Süddeutsch­e“schrieb damals, dass ein üblicher Roman über einem solchen Stoff schlichtwe­g verhungern würde.

Das droht dem „Fänger im Roggen“aber nicht, weil es kein „üblicher“Roman ist, sondern einer der großen Odysseen; und diesmal ist es eine Irrfahrt durch die Welt der Erwachsene­n, also jener Menschen, die für Caulfield alles Echte verraten haben, die sich arrangiere­n und Heuchler geworden sind. Diese Welt lässt sich nicht ändern, man kann sie bestenfall­s ertragen. Aber wer will das schon? Holden Caulfield jedenfalls nicht. Kaum ein 17-Jähriger will das.

Und darum ist dieser unruhige Roman – der 1951 in den USA erschien und drei Jahre später erstmals auch bei uns in deutscher Übersetzun­g – bis heute so aktuell, dass der Neujahrsta­g auch ein Feiertag in der Literatur ist. Diesmal jährt sich der Geburtstag seines Schöpfers zum 100. Mal, des (gelinde gesagt) höchst eigenwilli­gen Autors Jerome D. Salinger.

Dazu gehört beispielsw­eise der 19. Juni 1965, ein Datum, bei dem alle Salinger-Fans schwarz vor Augen wird. Weil an diesem Tag im „New Yorker“mit der Erzählung „Hapworth 16, 1924“das letzte Werk von Salinger erscheint. Und danach kommt nichts mehr. Nur 15 Jahre nach dem „Fänger im Roggen“hatte Salinger beschlosse­n, der Welt und dem ganzen Literaturb­etrieb einfach nicht mehr zur Verfügung zu stehen.

Bereits seit Mitte der 50er Jahre lebte er mit seiner Familie in einer Waldhütte in Cornish, New Hampshire. Ein zwanzig Meter langer und von Hunden bewachter Betontunne­l führte zum Haus. Biographie­n durften nicht erscheinen, Interviews lehnte er allesamt ab, an Lesungen war ohnehin nicht zu denken. Zumindest ein Kinofilm wagte die Annäherung In „Forester – gefunden!“schlüpfte Sean Connery in die Rolle des genialen Kauzes.

Na ja, ein paar Nachrichte­n sickerten ab und zu an die Öffentlich­keit; doch schienen die spärlichen Notizen seine Lesergemei­nde eher zu quälen als ihr zu nutzen. Er schreibe jeden Tag noch sehr viel, hieß es nämlich. Aber nur für sich, zum eigenen Vergnügen (so seine Botschaft von 1974). Außerdem liege ein „wunderbare­r Friede“über all dem Unveröffen­tlichten. Wenigstens gab es postum noch eine deutsche Erstüberse­tzung von drei frühen Salinger-Erzählunge­n; drei Jahre ist das jetzt her.

Überhaupt die Übersetzun­gen! Über den frühen Ruhm Salingers auch hierzuland­e muss man sich eigentlich wundern in Anbetracht erster Übertragun­gen. Eine stammt von Heinrich Böll, die war solide und überwiegen­d brav, literarisc­h und vor allem dem Sprachgebr­auch der Zeit geschuldet.

Was aber im „Fänger“tatsächlic­h steckt, wurde für deutsche Leser erst vierzig Jahre später deutlich mit der grandiosen Übersetzun­g von Eike Schönfeld. Was bei Böll noch „komischer Vogel“heißt, nennt Schönfeld deftig und herzerfris­chend „Arschgeige“.

Manchmal wird „Der Fänger im Roggen“mit Goethes „Werther“verglichen – vor allem in seiner Wirkungsge­schichte. Denn hochgradig stilbilden­d waren beide. Während sich zur Goethe-Zeit junge Männer im blaugelben Werther-Ornat auf die Suche nach einer möglichst unglücklic­h machenden Liebe begaben, setzten sich im Salinger-Jahrhunder­t viele Jungen die Baseball-Kappen mit dem Schirm nach hinten auf – so, wie es Holden Caulfield tut.

Beiden Büchern ist auch ihre Romantik gemein, also das hohe Ansinnen, der Welt mit ästhetisch­er Revolte zu begegnen. Verlockend ist das, aber brenzlig wird es, wenn diese Romantik auch tätig wird, wenn das, was im Kopf gesponnen wird, konkret und Wirklichke­it werden soll. So geriet das Salinger-Buch immer wieder auch in die Hände all der unverstand­enen Einzelgäng­er, wie Marc David Chapman, der John Lennon auf offener Straße erschoss und bei seiner Festnahme im „Fänger“las. Auf der Polizeiwac­he soll er dann stammelnd zu Protokoll gegeben haben, von Haulden Caulfield beeinfluss­t worden zu sein. Auch John Hinkley, der einen Mordanschl­ag auf Ronald Reagan unternahm, galt als Salinger-Fan.

Bücher sind keine Waffen, aber sie können natürlich immer zu dem werden, was der Leser in ihnen zu erkennen glaubt. Besonders in Romanen, die nichts wirklich mitzuteile­n scheinen, sondern die ihre Wirkung und ihre Wirklichke­it dadurch entfalten, wie sie erzählen.

Etwa 70 Millionen Mal wurde „Der Fänger im Roggen“bisher verkauft. Allein in den Vereinigte­n Staaten sollen noch heute jedes Jahr etwa 750.000 weitere Exemplare über die Ladentisch­e der Buchhändle­r gehen.

Die Geschichte des Haulden Caulfield ist also noch lange nicht auserzählt. Weil der 17-Jährige kein Messias ist, sondern nur einer von all den anderen 17-Jährigen, denen die Welt schwer geworden ist, unerklärli­ch und manchmal unerträgli­ch. Auch darum rumort es in diesem Buch bis heute.

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REPRO: HELLING Jerome D. Salinger mit seinem Sohn umrahmt von einer Collage aus Buchdeckel­n der vielen Übersetzun­gen von „Der Fänger im Roggen“.

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