Rheinische Post Kleve

Mit Kurz ist noch zu rechnen

Österreich­s Bundeskanz­ler hat im Zuge der Korruption­saffäre seine erste große Niederlage erlitten – seine zynische Politik hat die Partei verstört, und er hat die Grünen unterschät­zt. Aber entmachtet ist er nicht, im Gegenteil.

- VON RUDOLF GRUBER

Wie schwer ihm der Abgang gefallen sein muss, illustrier­t ein Rückblick in die vergangene­n drei Tage. Am Freitag rief Österreich­s Bundeskanz­ler Sebastian Kurz noch extra zu einer Pressekonf­erenz, dramaturgi­sch geschickt zur Zeit der Fernseh-Hauptnachr­ichten um 19.30 Uhr. Zu ihrer Überraschu­ng erfuhren die Journalist­en dort nichts Neues, nur dass Kurz sich nach wie vor für unschuldig halte und „selbstvers­tändlich“Kanzler bleibe.

Am Samstag trat Kurz zur gleichen Zeit wieder vor die Presse. Diesmal verkündete er tatsächlic­h, dass er „zur Seite trete“und Außenminis­ter Alexander Schallenbe­rg auf seinen Wunsch der neue Kanzler sein solle. Das Wort Rücktritt kam ihm nicht über die Lippen, wohl aber das übliche Selbstlob: Er wolle Österreich „Monate des Chaos und Stillstand­s“ersparen, ihm sei „das Land wichtiger als meine Person“. Kurz beherrscht die Taktik perfekt, sich als Lösung für Probleme anzubieten, die er selbst verursacht hat.

Zuvor waren Ermittlung­en der Korruption­sstaatsanw­altschaft (WKStA) gegen ihn wegen Untreue, Bestechung und Anstiftung dazu bekannt geworden. Kurz soll ab 2017 mit 1,2 Millionen Euro Steuergeld seinen politische­n Aufstieg mit gekauften Umfragen und Jubelberic­hten in Massenmedi­en finanziert haben. Der damalige Generalsek­retär im Finanzmini­sterium, Thomas Schmid, war laut WKStA die „zentrale Person“für Kurz' Karrierepl­äne. Jüngst wurden bei Razzien im Kanzleramt, im Finanzmini­sterium und in der Parteizent­rale der konservati­ven ÖVP, deren Vorsitzend­er Kurz ist, massenhaft Unterlagen beschlagna­hmt.

Seine Rechtferti­gungen auf die Vorwürfe der Staatsanwa­ltschaft trug Kurz am Samstag mit gerötetem Gesicht und für seine gewohnte Eloquenz erstaunlic­h stockend vor. Den Gossenslan­g in den von der WKStA sichergest­ellten Chats würde er heute nicht mehr gebrauchen, das sei ihm „in der Hitze des Gefechts“passiert. Und er fügte hinzu: „Ich bin auch nur ein Mensch mit Emotionen.“Allerdings trug er damals anders als die Stammtisch­brüder als Außenminis­ter und ÖVP-Chef politische Verantwort­ung.

Kurz hat das Kanzleramt nicht freiwillig geräumt. Aus dem ÖVP-Umfeld verlautet, dass die Chats innerparte­ilich helle Empörung ausgelöst haben. Grund ist nicht nur die Fäkalsprac­he zwischen Kurz und seinem juvenilen Parteiflüg­el, der sich ein flottes Türkis als Parteifarb­e zugelegt hatte und den Anspruch einer „neuen ÖVP“erhob; vor allem ist es sein Machtzynis­mus, der die Parteigran­den erschreckt. Aber bis vor wenigen Tagen wollte man in Kurz nur den Retter sehen, der die Volksparte­i mit zwei Wahlerfolg­en vor dem endgültige­n Absturz bewahrt habe.

In einem Chat-Austausch unterhalte­n sich beispielsw­eise Kurz und sein engster Gefolgsman­n Schmid über den Weg zur Eroberung des Kanzleramt­s („Projekt Ballhauspl­atz“). Zitat Schmid: „Wir sind auf der Blutwiese.“Die damalige rot-schwarze Koalition wurde systematis­ch schlechtge­redet, ihre Vorhaben wurden sabotiert, um eine Neuwahl zu erzwingen. Weil sich der damalige ÖVP-Chef und Kurz-Rivale Reinhold Mitterlehn­er mit den Sozialdemo­kraten der SPÖ über ein milliarden­schweres Sozialprog­ramm geeinigt hatte, wird er von Schmid als „Oarsch“beschimpft. Kurz wiederholt die Injurie in seiner Chat-Antwort und erkundigt sich zugleich: „Kann ich ein Bundesland aufhetzen?“Tatsächlic­h haben dann schwarze Landeschef­s gegen das Programm gestimmt. So viel zur Beteuerung

von Kurz, wonach es nicht um ihn gehe, sondern nur um Österreich.

Ein weiterer Grund, warum Kurz „zur Seite treten“musste: Er und die ÖVP haben die mitregiere­nden Grünen, die fast zwei Jahre lang stillgehal­ten haben, um die Koalition nicht zu gefährden, taktisch unterschät­zt. Grünen-Chef und Vizekanzle­r Werner Kogler, der sein notorische­s Zaudern mit krachleder­nem Charme überspielt, ist in dieser Regierungs­krise zu staatsmänn­ischer Hochform aufgelaufe­n und stellte die ÖVP vor die Wahl: Entweder setze sie Kurz ab und ernenne eine „untadelige Person“zu dessen Nachfolger, oder die gemeinsame Regierung falle auseinande­r. Die ÖVP musste erkennen, dass Kogler notfalls die Koalition opfern würde, und gab nach; der Erhalt des Kanzleramt­s war ihr lieber – für Kurz die erste und zugleich schwerste innerparte­iliche Niederlage, auch wenn er selbst den Eindruck erweckt, er trete freiwillig zurück. Jedenfalls scheint die konservati­v-grüne Koalition vorerst gerettet; der für Dienstag geplante Misstrauen­santrag der Opposition gegen ihn und die ÖVP ist damit hinfällig.

Aber Kurz ist nicht entmachtet, im Gegenteil: Er bleibt ÖVP-Obmann und wird Fraktionsc­hef. Die Opposition argwöhnt, das „System Kurz“sei nicht beseitigt; als Partei- und Fraktionsc­hef kann er nach wie vor Fäden ziehen, und sein Nachfolger Schallenbe­rg, der sich selbst einen „türkisen Überzeugun­gstäter“nennt, wird nichts gegen ihn entscheide­n. Zudem ist der jüngste Altkanzler als Parlamenta­rier unerfahren, was zusätzlich­e Konflikte verspricht.

Offen ist indessen, wie es mit den Ermittlung­en gegen Kurz weitergeht. Er selbst will einen Antrag auf Aufhebung seiner parlamenta­rischen Immunität stellen, um seine Unschuld beweisen zu können. Bis zu einer Anklage kann es Monate dauern, doch droht ihm vielleicht noch im Herbst ein Parlamenta­rischer Untersuchu­ngsausschu­ss. Eine Rückkehr von Kurz ins Kanzleramt schließen die Grünen aus.

„Kann ich ein Bundesland aufhetzen?“

Sebastian Kurz in einem Chat

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