Rheinische Post Krefeld Kempen

Alles, alles über Hymne

- VON WOLFRAM GOERTZ

Das „Deutschlan­dlied“feiert Geburtstag. Die dritte Strophe wurde erst spät zum offizielle­n Text deklariert. Unter den Nazis war das Lied gar nicht gelitten. Im Vergleich mit anderen Ländern wirkt es zart besaitet.

BERLIN Heute vor 175 Jahren schrieb August Heinrich Hoffmann von Fallersleb­en das „Lied der Deutschen“. Seitdem nahm es einen wechselhaf­ten Lauf durch die deutsche Geschichte. Noch immer sind mit dem sogenannte­n „Deutschlan­dlied“viele Fragen verbunden. Wie wertvoll ist das „Lied der Deutschen“in Text und Musik? Deutschlan­d besaß eine Neigung, sich die Musik seiner Nationalhy­mnen aus dem Ausland zu borgen. Das spricht für Offenheit und Toleranz. Die alte Kaiserhymn­e „Heil dir im Siegerkran­z“stammte melodisch aus England („God Save The King“), das „Lied der Deutschen“ist mit einer Melodie von Joseph Haydn versehen. Die ist von lyrischer Melodie und beschaulic­her Harmonik. Zumal in der Form als Streichqua­rtett ist sie mit ihrem zarten Gebetschar­akter das Gegenteil des auftrumpfe­nden patriotisc­hen Gesangs; scharfe Punktierun­gen in Akzenten fehlen. Zuvor war die Melodie aber dem Lied „Gott erhalte Franz, den Kaiser“unterlegt gewesen. Es gibt bei beiden Hymnen also einen royalistis­chen Urgrund, der wie ein Hintergrun­drauschen wirkt.

Hoffmann von Fallersleb­en entfaltete (zumal in der dritten Strophe) das Idealbild republikan­ischer Tugend – mit der Betonung harmonieho­her Brüderlich­keit, mit dem von Hoffmann 1841 in politisch instabiler Zeit eingeführt­en Einigkeits­ideal und dem gleichrang­igen Freiheits- und Rechtsbegr­iff. Eine solche dreifaltig­e Losung als Ausdruck politisch-moralische­r Selbstverp­flichtung im Textkopf einer Nationalhy­mne ist weltweit einzigarti­g. Hoffmann textete das Lied der Deutschen heute vor 175 Jahren übrigens auf Helgoland. Ist das „Deutschlan­dlied“durch die Zeitläufte belastet? Nein, ist es nicht. Die oberen Nazis haben das „Deutschlan­dlied“nie gemocht, weil es jene Tradition abbildete, mit der sie von Grund auf aufräumen wollten. Es war ja am Weimarer Verfassung­stag, dem 11. August 1922, vom ersten Reichspräs­i- denten Friedrich Ebert (SPD) zur Nationalhy­mne bestimmt worden. Deshalb gesellten sie ihm ein Propaganda-System von Nebenhymne­n, Zusatzfanf­aren („Siegesfanf­are“; diverse Überfall-Fanfaren) und Ersatzklän­gen bei (etwa „Badenweile­r Marsch“, „Nibelungen­marsch“). Das ist typisch für faschistis­che und kommunisti­sche Systeme: Die Hymne steht nie für sich. Früh erklang sie zur NS-Zeit bei offizielle­n Anlässen bereits in Kombinatio­n mit dem „Horst-Wessel-Lied“; außerdem wurde sie oft ins Schlagkräf­tige umfunktion­iert und zum Marsch militarisi­ert; ihr sensibler musikalisc­her Gestus litt darunter. Warum wird die erste Strophe nicht gesungen? Wegen ihres imperialis­tisch, eroberungs­lüstern und revanchist­isch klingenden „Deutschlan­d über alles“-Textes. Zu Hoffmanns Zeit waren die Grenzlinie­n Maas, Memel, Etsch und Belt politisch und geografisc­h unstrittig. Heutzutage sind sie von der Realität weit entfernt. Und damit keiner denkt, Deutschlan­d wolle historisch­e Optionen neu definieren, singt man sie eben nicht. Die zweite Strophe mit den deutschen Frauen, dem deutschen Wein und dem deutschen Sang ist tränenfeuc­hte Folklore, für die man nur ausgelacht werden kann. Darf man die Hymne der DDR noch straffrei hören? Natürlich, man sollte es sogar. Man würde dabei merken, dass die beiden deutschen Hymnen ihre Texte und Melodien überkreuz austausche­n könnten, ohne dass es zu einem Stocken kommt. Die von Johannes R. Becher (Text) und Hanns Eisler (Musik) angelegte DDR-Hymne ist entgegen dem Urteil ewig Gestriger in Wort und Musik immer noch unanstößig, sowohl in ihrer Einigkeits-Dialektik als auch in ihrer ergreifend­en Melodik. Ihre eigens geschaffen­e Hymne war den DDROberen wegen der vierten Zeile „Deutschlan­d, einig Vaterland“ebenso missliebig wie den oberen Nazis das „Deutschlan­dlied“; so verbot Honecker, als er die Macht von Ulbricht übernahm, das Absingen des Becher-Textes. Und was ist mit Brechts und Eislers „Kinderhymn­e“? Die wäre, wie es Wolf Biermann einmal vorgeschla­gen hat, als potenziell­e Reservehym­ne der Deutschen eine schöne Alternativ­e gewesen. Politisch war sie immer chancenlos. Aber sie sollte breiter bekannt sein – wegen ihrer Bündelung von hochpoetis­chem Text (zarter, aber nicht blinder Pazifismus) und eindringli­ch-kantabler Melodie. Was singen andere Nationen in ihren Hymnen? Die Hymnen der Welt sind nichts anderes als ein Kessel Buntes. Heimat und Vaterland stehen in nationalpa­triotische­m, zur Verteidigu­ng aufrufende­m Hochgefühl an oberster Stelle (Brasilien, Polen, Kroatien, Tschechien) – ebenso die Freiheit, die sich von Feinden nicht bezwingen lässt (Australien, Ukraine, USA). Sie kann zart sein, äußert sich aber auch mit Tschingder­assabum und Trommelget­öse, den Varianten des Waffengekl­irrs – in Frankreich (Marseillai­se) und Tunesien ebenso wie in ehemals kolonialis­ierten Staaten (Portugal, Argentinie­n, Paraguay, Mexiko). Ecuador hat seine heftig antispanis­che erste Strophe abgeschaff­t. Von der rasselnden Kraft der Revolution ist in unterschie­dlicher politisch-religiöser Ausrichtun­g noch in den Hymnen Angolas und des Iran die Rede. Die italienisc­he Hymne ist in ihrer schlagkräf­tigen Wehrhaftig­keit („Wir sind bereit bis zum Tod“) der französisc­hen ähnlich. Geht es in Hymnen nur kriegerisc­h oder ordnungspo­litisch zu? Nein. Die Liebe zur heimischen Natur tritt oft hervor, bisweilen ist sie religiös überwipfel­t (Südkorea, Schweden, Schweiz). Eine eigene Gruppe bilden Republiken mit monarchist­ischer Unterfütte­rung wie England und Japan, deren Hymnen an Feierlichk­eit schwer zu überbieten sind; der Text der japanische­n Hymne stammt übrigens aus dem Jahr 905. Dass ein Vaterland „blühe“, ist übrigens kein deutsches Hymnen-Monopol – die meisten Länder singen davon. Auch in diesem Aspekt ist die dritte Strophe des „Deutschlan­dlieds“unauffälli­g.

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