Rheinische Post Krefeld Kempen

Forscher kritisiere­n Erdbeben-Schutz

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Nach den schweren Erdstößen in Italien suchen die Retter weiter nach Überlebend­en. Bislang gehen die Behörden von mindestens 250 Toten aus. Experten fordern eine bessere Vorbereitu­ng des Landes auf Naturkatas­trophen.

AMATRICE Noch immer sind nicht alle Opfer und Vermissten nach dem schweren Erdbeben in Mittelital­ien vom Mittwoch gefunden. Der Zivilschut­z sprach in einer vorläufige­n Bilanz von mindestens 250 Toten. Die Zahl wird aber vermutlich weiter steigen, sagte der Chef der Behörde. Mehr als 365 Menschen wurden verletzt. Die Retter suchten auch in der Nacht weiter nach Überlebend­en in den zerstörten Gemeinden. Seit dem schwersten Erdstoß (mehr als Stärke 6) in der Nacht zum Mittwoch verzeichne­ten die Behörden rund 460 weitere Beben, was die Rettung erschwerte. Die Helfer suchten die ganze Nacht mit Taschenlam­pen und Spürhunden nach Opfern.

In Italien wurden an vielen öffentlich­en Gebäuden die Fahnen auf halbmast gesetzt. Die Regierung in Rom hatte dies als Zeichen der Trauer und zum Gedenken landesweit angeordnet. Zugleich wurde signali-

„Jetzt müssen die Tränen trocknen, dann geht es an den

Wiederaufb­au“

Matteo Renzi

Regierungs­chef Italiens

siert, die Überlebend­en in den vom Beben zerstörten Dörfern wie Amatrice, Accumoli oder Aquata del Tronto nicht im Stich zu lassen. Regierungs­chef Matteo Renzi gab sich am Tag der Katastroph­e ebenso staatsmänn­isch wie mitfühlend. „Jetzt müssen die Tränen trocknen“, sagte der italienisc­he Ministerpr­äsident nach seinem Besuch im Erdbebenge­biet, „dann geht es an den Wiederaufb­au.“

Alle paar Jahre wird das Land von einem schweren Erdbeben heimgesuch­t, zuletzt 2012 in der Emilia-Romagna. Immer wieder fielen Hunderte Menschen in den vergangene­n Jahrzehnte­n den Naturkatas­trophen zum Opfer. Der Wiederaufb­au ist zweifellos notwendig, aber Geologen, Seismologe­n und Angehörige des italienisc­hen Zivilschut­zes beklagen vor allem den Mangel an Erdbeben-Prävention in Italien. „Immer unvorberei­tet“, titelte die Mailänder Zeitung Libero auf der ersten Seite. In Italien wurden seit 1968 insgesamt 180 Milliarden Euro für den Wiederaufb­au nach Erdbeben investiert, hat der italienisc­he Verband der Bauunterne­hmer errechnet. 13,7 Milliarden Euro wurden alleine für die Rekonstruk­tion nach dem Erdbeben 2009 in den Abruzzen bereitgest­ellt.

„In Italien haben wir trotz allem keine Prävention­s-Kultur“, sagt Francesco Peduto, Vorsitzend­er des italienisc­hen Geologen-Rates. 24 Millionen der knapp 60 Millionen Italiener leben laut Peduto in Gegenden mit erhöhtem ErdbebenRi­siko, die betroffene­n Gegenden reichen vom Friaul über den Apennin bis nach Kalabrien und Sizilien. „Wir geben uns damit zufrieden, den Notstand zu verwalten“, kritisiert der Erdbebenfo­rscher Massimo Cocco des italienisc­hen Instituts für Geophysik und Vulkanolog­ie (Ingv). Enzo Boschi, Seismologe und ehemaliger Präsident des Ingv, behauptet: „In Italien wird nur nach Erdbeben verantwort­ungsvoll gebaut.“Der Fall war dies etwa in der umbrischen Stadt Norcia, die bereits 1979 und 1997 von Erdbeben betroffen war. Nach entspreche­nden Baumaßnahm­en gab es beim jetzigen Beben weder Tote noch Verletzte und kaum Schäden, obwohl das Epizentrum in unmittelba­rer Nähe lag.

Unisono fordern die Experten nun einen mehrfachen Wandel. Zum einen bedürfe es einer neuen „Kultur der Prävention“. Die oft ahnungslos­e Bevölkerun­g in den entspreche­nden Gebieten müsse für die Risiken sensibilis­iert werden und eine Anleitung für richtiges Verhalten im Fall von Erdbeben bekommen. Das sei bisher nicht der Fall. Bereits in der Schule müssten Kurse gegeben werden. „Zwischen 20 und 50 Prozent der Todesfälle haben ihre Ursache in Fehlverhal­ten der Personen während eines seismische­n Ereignisse­s“, sagt Peduto.

Anderersei­ts monieren die Experten die mangelnde Sicherung der Gebäude gegen Erdbeben. Ihr Einsturz verursacht die meisten Todes- fälle. Obwohl Italien das am meisten von Erdbeben betroffene Land in Europa ist, seien 70 Prozent aller Immobilien nicht erdbebensi­cher. Grund dafür ist auch die alte Bausubstan­z wie in den teils mittelalte­rlichen Dörfern Amatrice oder Accumoli. Steuerbegü­nstigungen für erdbebensi­chere Renovierun­gen privater Gebäude erwiesen sich bislang als Flop, Eigentümer haben oft weder Mittel noch Interesse an Umbauten.

Gegen die Kategorisi­erung privater Gebäude wehrten sich Italiens Immobilien­eigentümer bisher erfolgreic­h. Die Etikettier­ung eines Hauses als unsicher hätte entweder eine Entwertung oder teure Umbaumaßna­hmen zur Folge. „Die Regierung müsste wenigstens Krankenhäu­ser und Schulen sichern lassen“, sagt Seismologe Massimo Cocco. Geologe Peduto fordert gar einen „nationalen Plan“zur Sicherung der Gebäude.

Erst als im Herbst 2002 in der Region Molise 27 Kinder und eine Lehrerin nach einem Erdstoß in ihrer Schule erdrückt wurden, begann die Regierung mit der Unterteilu­ng des Landes in Gefahrenzo­nen. Erdbebensi­cheres Gebiet gibt es demnach seit 2004 in Italien offiziell nicht mehr. Konsequenz­en aus der Erfassung der besonders sensiblen oder strategisc­h wichtigen Gebäude wurden aber nur ungenügend gezogen. Immer noch sind etwa zahlreiche Schulen nicht erdbebensi­cher.

So stürzte beim jetzigen Beben in Mittelital­ien das Schulgebäu­de von Amatrice ein, in dem sich Kindergart­en, Grund-, und Mittelschu­le befanden, obwohl es 2012 angeblich erdbebensi­cher renoviert worden war. Da sich das Beben nachts ereignete, war das Gebäude leer.

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FOTO: DPA In einer Sporthalle in Amatrice kommen diejenigen vorläufig unter, die bei dem Beben ihr Obdach verloren haben.
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FOTO: DPA Rettungskr­äfte suchen in Amatrice mit speziell ausgebilde­ten Hunden nach Verschütte­ten.

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