Rheinische Post Krefeld Kempen
Vielleicht mag ich dich morgen
Ihr Naan-Brotartiges Gesicht war nahezu kugelrund und erinnerte an eine CabbagePatch-Puppe. Auf ihrer Stirn wimmelte es von Aknepusteln. Ihr Versuch, sie mit einer theaterschminkedicken Schicht beiger Abdeckcreme von Rimmel’s zu tarnen, hatte eine seltsame Mondlandschaft geschaffen. Darunter wölbten sich schwarze, raupenartige Augenbrauen, die sich in der Mitte trafen.
Doch das Schlimmste war vermutlich ihr Gesichtsausdruck. Aureliana hatte Kameras gehasst – und die Kameras hatten ihren Hass erwidert. Weshalb sie das Objektiv mit einem Blick bedachte, der normalerweise Erzfeinden vorbehalten ist. Also weniger ein Lächeln als die verzerrte Grimasse des abgeschlagenen und gepfählten Kopfes eines Verräters. Zwischen den Lippen blitzten die Bahngleise ihrer Zahnspange.
Eigentlich hatte Anna gedacht, das streng geheime Beweisstücke wie dieses längst im Müll oder im Feuer gelandet waren. Mit Ausnahme des allerletzten überlebenden Schulfotos, das, in Packpapier gewickelt, ganz unten in der Schublade von Mums Schlafzimmerkommode ruhte. Und dennoch war dieses Souvenir des Grauens irgendwie durch die Maschen geschlüpft. Ihr Atem ging schnell und stoßweise, und ihre Gedanken überschlugen sich. Wie hatte das geschehen können? Niemals hätte sie ein Andenken an ihre Vergangenheit in der Wohnung herumliegen lassen. Und noch dazu offen.
Im nächsten Moment fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Das Foto ragte aus der verbeulten Tasche mit Krimskrams vom elterlichen Speicher. Die unausgepackte Tasche war umgekippt, und das Porträt war dank seines Gewichts auf den Boden gerutscht. Anna hatte das rechteckige Objekt in der Tasche für einen Aktenordner aus der Schule gehalten. Und nun hatten sich ihr Widerwillen gegen das Stöbern in der Vergangenheit, in Kombination mit dem fehlenden Eifer beim Aufräumen, bitterlich gerächt.
„Woher kennst du die denn, um Himmels willen?“, entsetzte sich James und zog das Foto noch ein paar Zentimeter aus der Tasche, so dass die Träger des selbstgenähten Trägerkleids und die vielen Goldketten von Argos zum Vorschein kamen, die sie gern unter dem Blusenkragen getragen hatte, um sich ein bisschen aufzustylen.
Die Erkenntnis dämmerte zwar allmählich, hatte in James’ Verstand aber noch nicht vollständig Gestalt angenommen.
Anna hatte es die Sprache verschlagen. Doch dann sorgten Angst und Grauen dafür, dass sie sich in Bewegung setzte.
„Hör auf, in meinen Sachen zu kramen!“, schrie sie auf, machte einen Satz quer durch den Raum, griff nach dem Foto und zerrte es aus der Tasche. Dann drückte sie es sich, die Bildseite nach innen, mit beiden Armen schützend vor den Bauch.
„Den ganzen Abend schnüffelst du schon hier rum, du neugieriger Blödmann!“
„Äh?“, stammelte James, erschrocken über ihre Lautstärke und Heftigkeit. „Das lag doch nur so rum. Warum hast du ein Foto von einem Mädchen aus meiner Schule, das . . . Moment mal, sie war Italienerin . . .“
Seine Augen, rauchblau wie das Gatsby-Poster, weiteten sich.
Augen, die Aureliana einst eine ganze Chemiestunde lang angehim- melt hatte. Und das, obwohl sie hinter einer dieser albernen, beschlagenen Schutzbrillen verborgen gewesen waren. James hielt sich die Hand vor den Mund und schüttelte den Kopf. Als seine Hand wieder nach unten sackte, stand sein Mund ein Stück offen. Annas Brust hob und senkte sich. „Bist du etwa . . .? Alessi. Aber sie hieß doch . . . Ariana? Ist das deine Schwester?“
„Aureliana“, erwiderte Anna und hörte, wie ihre Stimme zitterte. „Meine Name ist Aureliana.“
Diese Enthüllung selbst vorzunehmen schenkte ihr einen Moment Erleichterung. Sie hatte sich behauptet. Doch schon im nächsten Moment stürzte der Schmerz wieder über sie herein, denn James’ Miene verzog sich ungläubig, erstaunt und . . . belustigt.
Er lachte. Er fing tatsächlich, schnaubend und fassungslos, zu lachen an. „Oh, mein Gott. Anna? Aureliana? Du bist das? Das warst du? Ich fasse es nicht.“„Lachst du mich etwa aus?“„Ich bin nur ein bisschen überrascht. So etwas Seltsames ist mir noch nie passiert. Warum hast du denn nichts gesagt . . .?“
„Weißt du noch, was du mir damals angetan hast?“James zuckte die Achseln. „Du weißt es nicht mehr?“, wiederholte sie, diesmal mit mehr Vehemenz.
Angriff war die beste Verteidigung. Nur so konnte Anna diese Situation erträglich machen. Sie musste die brennende Scham in lodernde Wut ummünzen.
„Äh . . . es ist schon eine Weile her. Entschuldige, aber ich brauche einen Moment, um das sortiert zu kriegen. Du hattest ja ein bisschen länger Zeit, dich daran zu gewöh- nen. Du hast dich so verändert . . .“
„Meinst du damit weniger fett? Weniger hässlich? Weniger gemobbt? Das letzte Wort hilft deinem Gedächtnis vielleicht auf die Sprünge.“
Inzwischen war die Stimmung in Annas Wohnzimmer gefährlich aufgeladen. Auch James dämmerte allmählich, dass Verteidigung angesagt war. Er wirkte verlegen. Und wütend.
„Sorry, aber was soll plötzlich dieses Rumgekreische? Schließlich hast du dich rumgedrückt wie so eine Spinnerin und verheimlicht, wer du wirklich bist.“
„Spinnerin!“, schrie Anna auf. „Fängst du schon wieder an, mich kleinzumachen? Verdammte Scheiße. Du hast dich kein bisschen verändert!“
„Warum brüllst du mich so an?“, fragte James. „Beruhig dich.“
„Sag nicht, dass ich mich beruhigen soll!“, zeterte Anna. Bei dem Gedanken, wie durchgeknallt sie sich anhörte, wurde ihr ganz flau. Doch sie hatte ihre Gefühle nicht mehr im Griff.
„Dann werde ich dir mal erzählen, was du gemacht hast. Du hast mich reingelegt und dazu gebracht, in einem Karnevalskostüm für Dicke auf die Bühne zu gehen, damit die ganze Schule mich mit Sachen bewerfen konnte. Während du gelacht hast. Du und Laurence habt dagestanden und mich ausgelacht. Und außerdem hast du mich als Elefant bezeichnet.“
James’ Blick wurde argwöhnisch, und er verzog ärgerlich die Lippen. „Äh. Okay. Ich soll mich also für einen bescheuerten Kinderstreich von vor fast zwanzig Jahren entschuldigen?“(Fortsetzung folgt)