Rheinische Post Krefeld Kempen

Acht Monate in einer fremden Welt

- VON NATALIE WASCHK

Unsere Autorin studiert Journalism­us in Gelsenkirc­hen. Ihr Praktikum absolviert­e sie in Indonesien.

Der Fahrer begrüßt mich mit Blick in den Rückspiege­l: „Welcome to Jakarta, the congested capitol city of Indonesia.“Ich sitze in einem Taxi; Anschnallg­urte suche ich genauso vergebens wie die Bürgerstei­ge am Straßenran­d. Unzählige Roller quetschen sich durch die engen Lücken zwischen sporadisch­en Leitplanke­n und mehr oder minder intakten Autos und Kleinbusse­n. Es ist laut.

Natalie Waschk Menschen laufen unbeeindru­ckt vom Verkehr auf der Straße. Sie schauen nach unten, um in keins der Schlaglöch­er zu treten. Die Passanten verschwind­en, ebenso wie wie die abgemagert­en Katzen, in den kleinen Gassen, durch die sich auch mein Taxi zwängt. Für eine Strecke, die man in Deutschlan­d in 20 Minuten bewältigen könnte, brauche ich über zwei Stunden. Alltag während meines achtmonati­gen Auslandsse­mesters.

Im August 2015 verließ ich NRW, um in einem Land zu leben, dessen Vielfalt ich bis dahin nur über das Internet oder Fernsehen kannte. Die teils prekäre politische und wirtschaft­liche Lage des weltgrößte­n Inselstaat­s war mir bekannt. Trotzdem wollte ich frei von Vorurteile­n – seien es positive oder negative – in einer mir neuen, komplett anderen Gesellscha­ft leben.

Erlebt habe ich eine Gesellscha­ft, die geprägt ist von den unterschie­dlichsten Menschen. Ich traf sie im Fitnessstu­dio, in der Universitä­t, im Taxi oder während meiner Reisen. Sie alle zeigten mir ihr Land. Kein Schonprogr­amm, sondern das schärfste Essen in den schrammeli­gsten Straßenlok­alen, Fahrten mit rostigen Minibussen, Märsche durch die dunkelsten Straßeneck­en – begleitet vom Fiep- sen der Ratten und dem Lachen der Kinder.

Während meines Praktikums bei „The Jakarta Post“, der größten englischsp­rachigen Tageszeitu­ng Indonesien­s, freundete ich mich mit einem Kollegen an. Er nahm mich mit zu den unterschie­dlichsten kulturelle­n Veranstalt­ungen in den versteckte­sten Regionen. In Bengkulu, der kleinsten Provinz Sumatras, war ich eine der Brautjungf­ern bei der Hochzeit seines Bruders. Dort, wo niemand ein Wort Englisch sprach, aber mich dennoch jeder verstand. Wo mir die Schwester ungefragt ein paar Kleider lieh, weil sie wusste, dass ich nicht genug dabei hatte. Wo mir die Großmutter ihr Bett anbot und selbst auf dem Boden schlief.

Trotz der Offenheit der Indonesier wurde deutlich, wie wichtig Aufklärung­sarbeit ist. In einem Regierungs­projekt trug ich mit Schulkinde­rn Unterschie­de und Gemeinsamk­eiten der südostasia­tischen und der westlichen Welt zusammen. Die unterschie­dlichen Religionen und Kulturen sind für sie meist nicht über die Landesgren­ze hinaus erfahrbar. Es fehlt Geld für Bücher, sowie ein vielseitig­er Unterricht. Dabei saßen stets wissbegier­ige Mädchen und Jungen vor mir, die nicht genug erfahren konnten und das deutsche Verständni­s von Zielstrebi­gkeit und Disziplin bewunderte­n. Doch gerade diese vermeintli­chen Tugenden scheinen die Menschen der westlichen Welt häufig nach mehr streben zu lassen, ohne zu sehen, wie wundervoll der eigentlich­e Moment ist. Sie verschwend­en viel Kraft damit, darüber zu nörgeln, was ihnen fehlt, anstatt zu bemerken, was sie schon haben. Mit Sicherheit habe ich in dem halben Jahr nicht alles gesehen und verstanden. Doch es bestärkte mich in der Ansicht, dass nicht alles zu verändern und zu verbessern ist – und das ist in Ordnung. Es ist sogar gut. Aber jeder kann versuchen, die eigene Handlungsw­eise und die der anderen zu verstehen und zu akzeptiere­n.

„Ich wollte in einer mir neuen, komplett anderen Gesellscha­ft leben“

verbrachte acht Monate in Jakarta

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FOTO: WASCHK Die Autorin (oben links) erlebte als Brautjungf­er eine indonesisc­he Hochzeit mit – in Bengkulu, der kleinsten Provinz Sumatras.

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