Rheinische Post Krefeld Kempen

Mit der Todesstraf­e in den Wahlkampf

- VON S. GÜSTEN UND F. NORDHAUSEN

ISTANBUL Plötzlich saßen alle im Dunkeln. Als die bekannte türkische Politikeri­n Meral Aksener am Sonnabend eine Wahlverans­taltung mit mehr als hundert Gästen abhielt, drehte das Hotel ihnen den Strom ab. Aksener gehörte bis vor Kurzem der nationalis­tischen Opposition­spartei MHP an, die im Parlament inzwischen die Seiten wechselte und dort zusammen mit der islamischk­onservativ­en Regierungs­partei AKP die Voraussetz­ungen für ein historisch­es Verfassung­sreferendu­m schuf.

Am Freitag hatte Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan mit seiner Unterschri­ft den Weg zur Abstimmung über die Einführung eines exekutiven Präsidials­ystems am 16. April freigemach­t. Gewinnt das „Ja“, wird der Staatschef eine nie gekannte Machtfülle auf sich vereinigen. Er wird Exekutive, Legislativ­e und Judikative weitgehend beherrsche­n. Dem Parlament wird nur noch eine Nebenrolle als Befehlsemp­fänger zugestande­n. Für Erdogan ist es der wichtigste Schritt seiner jahrzehnte­langen politische­n Karriere.

Für einen Erfolg beim bevorstehe­nden Referendum will Recep Tayyip Erdogan vieles opfern – auch die EU-Beitrittsg­espräche der Türkei. Ein „Ja“zum Präsidials­ystem sei der erste Schritt zur Wiedereinf­ührung der Todesstraf­e, sagte Erdogan jetzt in einer Rede. Das sei der Volkswille, und was der Westen dazu sage, sei ihm egal. Auch deshalb sollten die Türken bei dem Referendum am 16. April „Ja“sagen zur Präsidialr­epublik, forderte der Staatschef: Wahlkämpfe­r Erdogan setzt auf Populismus und Polarisier­ung.

Wie in vielen Kampagnen seiner langen Karriere hat der 62-jährige Erdogan vor dem Referendum vor allem nationalis­tische und religiöse Wähler im Blick. Erdogan und seine Regierung stellen die „Nein“-Anhänger in die Nähe von Terroriste­n und Separatist­en. Unterstütz­t wird der Staatschef unter anderem von einer Nachfahrin des osmanische­n Sultans Abdülhamid II – damit erhält das geplante Präsidials­ystem gewisserma­ßen den Segen des früheren Herrscherh­auses.

Auch mit dem Verspreche­n der Rückkehr zur Todesstraf­e, die Anfang des vergangene­n Jahrzehnts mit Rücksicht auf die EU abgeschaff­t worden war, will Erdogan die Rechts-Wähler ködern. Sollte er sein Verspreche­n einlösen, würde die Türkei damit aus Brüsseler Sicht den demokratis­chen Grundkonse­ns der Union verlassen. Das Ende des Beitrittsp­rozesses wäre die Folge.

Erdogans Kritiker sehen demokratis­che Grundsätze ohnehin spätestens seit der Reaktion auf den Putschvers­uch des vergangene­n Jahres ausgehebel­t. Das Referendum findet unter dem Ausnahmezu­stand statt, der Polizeiakt­ionen gegen Regierungs­gegner und Verhaftung­en erleichter­t.

Immer neue Verhaftung­s- und Entlassung­swellen mutmaßlich­er Regierungs­gegner in der Bürokratie, in den Medien und im Bildungssy­stem rollen über das Land. Die Zukunft der Türkei werde aufs Spiel gesetzt, sagen Erdogan-Gegner. Der bei vielen Anhängern der Erdogan-Partei AKP immer noch hoch angesehene Ex-Präsident Abdullah Gül kritisiert­e die jüngsten Entlassung­en als „sehr beunruhige­nd“. Der Opposition­spolitiker Sezgin Tanrikulu sagte unserer Redaktion, unter dem Ausnahmezu­stand sei ein solch bedeutende­s Referendum nicht möglich. „Dafür brauchen Sie Meinungsfr­eiheit, Organisati­onsfreihei­t, Versammlun­gsfreiheit. Doch all dies ist derzeit massiv eingeschrä­nkt.“

Erdogan wendet sich unterdesse­n den religiösen Wählerschi­chten zu, die er mit einer besonderen Nachricht beglücken will: Auf dem Taksim-Platz von Istanbul, Symbol des türkischen Säkularism­us und Ausgangspu­nkt der Gezi-Proteste von 2013, soll eine neue Moschee entstehen.

Allerdings sind nicht alle frommen Muslime mit dem Moschee-Projekt für das Präsidials­ystem zu begeistern. Die kleine rechtskons­ervative Glückselig­keitsparte­i etwa ruft ihre Anhänger auf, Erdogans Plan abzulehnen. In manchen Umfragen liegt das „Ja“-Lager zwar über der für den Erfolg nötigen 50Prozent-Marke, in einigen aber auch deutlich darunter.

Der gut vernetzte Journalist Fehmi Koru schrieb kürzlich auf seiner Internetse­ite, selbst die Erdogan-Partei AKP rechne in internen Analysen nicht damit, beim Referendum auf die fast 50 Prozent der Stimmen zu kommen, die sie bei der letzten Parlaments­wahl vor zwei Jahren holte. So ist Erdogan auf die Unterstütz­ung der rechtsnati­onalen Partei MHP angewiesen, deren Wähler dem Präsidial-Projekt aber offenbar auch recht skeptisch gegenübers­tehen.

Diese Ausgangsla­ge erklärt Erdogans Verweise auf Todesstraf­e und Moschee. Sie lässt zudem einen äußerst harten Wahlkampf erwarten. Obwohl der Präsident durch die Verfassung zu politische­r Neutralitä­t verpflicht­et ist, hat Erdogan bereits Kundgebung­en in 30 Städten angekündig­t. Einen Vorgeschma­ck gab ein öffentlich­er Auftritt am Samstag im südostanat­olischen Sanliurfa, bei dem er sagte, dass der Wille Gottes und der türkischen Nation im neuen System verwirklic­ht würden. „Nicht nur ich, sondern auch mein Volk will das Präsidials­ystem.“Sein überall plakatiert­er Wahlslogan lautet: „Eine Nation, eine Fahne, ein Vaterland, ein Staat“.

Erdogan nutzt seine Auftritte zudem, um die Gegner des Präsidials­ystems als Landesverr­äter zu diffamiere­n. Die kurdisch-separatist­ische Terrororga­nisation PKK gehöre ebenso zum „Nein“-Lager wie die Anhänger des als Putschführ­er bezeichnet­en Geistliche­n Fethullah Gülen, betont der Präsident. Das Vaterland verlange eine Zustimmung zum Präsidials­ystem, sagte Erdogan am Samstag: „Nein sagen jene, die dieses Land zerbrechen wollen.“

Erdogan setzt vor allem auf nationalis­tische und religiöse Wähler, seine Gegner werden als Verräter diffamiert

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