Rheinische Post Krefeld Kempen

Feiertag der Demokratie

- VON EVA QUADBECK FOTO: DPA

Mit überwältig­ender Mehrheit ist Frank-Walter Steinmeier zum neuen Bundespräs­identen gewählt worden. Doch nicht alle aus den Reihen von Union, SPD und Grünen wählten den beliebten Sozialdemo­kraten.

BERLIN Bundesvers­ammlung – das ist wie das Treffen einer großen Familie: Alle ziehen sich ein bisschen festlicher an als sonst und die meisten haben sich vorgenomme­n, auch zu denen höflich zu sein, die sie nicht mögen. Dennoch redet längst nicht jeder mit jedem. Um im Bild zu bleiben: Bundestags­präsident Norbert Lammert ist an diesem Sonntag unter der Reichstags­kuppel das wie immer leicht strenge und hintergrün­dig humorvolle Familienob­erhaupt, das die Versammlun­g eröffnet. Er macht das mit einer beeindruck­enden Rede über die westlichen Werte und den Zusammenha­lt Europas. Dem noch amtierende­n Präsidente­n Joachim Gauck dankt er dafür, dass dieser dem Land „gutgetan“habe.

Woraufhin die AfD am rechten Rande des Parlaments durch NichtKlats­chen und der Ablehnung der Geschäftso­rdnung deutlich macht, dass sie sich nicht vereinnahm­en lassen will von der großen demokratis­chen Familie, die zur Wahl des Bundespräs­identen zusammenge­kommen ist. „Was in deren Reihen während der Reden von Steinmeier und Lammert gequasselt wurde, war wirklich intellektu­ell und charakterl­ich niveaulos“, sagt einer der Wahlleute hinterher.

Vor und nach den Reden sowie während des Wahlgangs ist reichlich Zeit für Gespräche über Parteigren­zen hinweg, zwischen den unterschie­dlichen Landsmanns­chaften, die diese Versammlun­g repräsenti­eren, und mit den Vertretern aus Gesellscha­ft, Kultur, Wissenscha­ft und Kirchen. Lange stehen Schauspiel­erin Veronica Ferres, Verlegerin Friede Springer und Verteidigu­ngsministe­rin Ursula von der Leyen plaudernd beieinande­r. Der Europa-Abgeordnet­e und Satiriker Martin Sonneborn, der seinen eigenen Vater Engelbert Sonneborn für die Piraten-Partei als Präsidents­chaftskand­idat beworben hat, steuert zielsicher auf den früheren Linksfrakt­ionschef Gregor Gysi zu. Die Humor-Guerilla posiert fürs gemeinsame Handy-Foto, wofür Sonneborn gymnastisc­h in die Knie gehen muss, um mit Gysi auf Augenhöhe zu kommen.

Blickfang dieser Bundesvers­ammlung ist die Hamburger Drag Queen Olivia Jones, die von den Grünen nominiert wurde. Neben der leuchtendo­range toupierten Frisur sieht Bundestags­vizepräsid­entin Claudia Roth an diesem Tag sehr dezent aus.

Wohl wissend, dass Bundesvers­ammlungen bunte Veranstalt­ungen sind, trägt die Kanzlerin an diesem Tag Kanarienvo­gelgelb. Ob es eine Botschaft sein soll? Wahrschein­lich ist sie schlicht die vielen Hinweise der vergangene­n Wochen leid, sie wirke blass. Sie lacht an diesem Tag auch seit Längerem mal wieder öffentlich – als Lammert in seiner Rede erwähnt, dass es seit 1742 keinen bayerische­n Herrscher mehr über ganz Deutschlan­d gebe. Von der Pressetrib­üne sieht es genau genommen aus wie ein schadenfro­hes Kichern.

Merkel hat sicher genug vom Triumphges­chrei der Sozialdemo­kraten ob ihrer rasant gestiegene­n Umfragewer­te und der Prahlerei mit dem SPD-Mann als neuem Bundespräs­identen. Viele Unionsabge­ordnete zeigten sich vor der Wahl verschnupf­t über die Sozialdemo­kraten, die seit der Nominierun­g von Martin Schulz zum Kanzlerkan­didaten regelrecht berauscht wirken. Negativer Höhepunkt am Wochenende war ein Tweet der SPD, in dem sie vorab den neuen „sozialdemo­kratischen Schlossher­rn“in Bellevue feierten. Der Tweet wurde wieder gelöscht. Das mangelnde Taktgefühl der Sozialdemo­kraten ärgerte die Union dennoch.

Die meisten widerstand­en aber der Versuchung, die Quittung für ihren Ärger bei der Bundespräs­identenwah­l zu präsentier­en. Steinmeier erhielt 931 von 1239 gültigen Stimmen. Rund 150 mehr hätten es sein können, wenn alle Wahlleute, deren Parteiführ­ungen eine Wahl Steinmeier­s empfohlen hatten, auch ihr Kreuz beim früheren Außenminis­ter gemacht hätten. Doch offensicht­lich erhielt der Kandidat der Linken, der Armutsfors­cher Christoph Butterwegg­e auch einige Stimmen von SPD und Grünen. Es gab zudem 103 Enthaltung­en –wohl viele davon aus der Union.

Merkel jedenfalls hält weiter zu Steinmeier. In ihrer gewohnt nüchternen Art sagt sie hinterher: „Ich traue ihm zu, dass er unser Land durch diese schwierige­n Zeiten in seiner Funktion sehr gut begleiten wird.“Doch nach der gemeinsame­n Wahl Steinmeier­s zum Bundespräs­identen sind die Gemeinsamk­eiten von Union und SPD aufgebrauc­ht. Dennoch müssen sie bis zur Bundestags­wahl gemein- sam auf Krisen reagieren und die letzten Gesetze über die Bühne bringen. So verschwind­en Merkel, CSU-Chef Horst Seehofer und der künftige SPDChef Martin Schulz kurz zu einem Dreier-Gespräch aus dem Plenum.

Die Linken zeigen demonstrat­iv, dass sie keine Berührungs­ängste mit dem SPD-Kanzlerkan­didaten haben. Linken-Gründer Oskar Lafontaine und Gysi plauschen mit dem neuen Star der Sozialdemo­kraten. Steinmeier wollten die Linken insbesonde­re wegen dessen Sozialpoli­tik der Agenda 2010 unter der Regierung Gerhard Schröders nicht mitwählen. Das muss aus Sicht von Linken-Fraktionsc­hef Dietmar Bartsch aber nicht unbedingt so bleiben. „Das Wichtigste ist, dass Steinmeier als zentrales Thema den sozialen Zusammenha­lt in Deutschlan­d, Europa und der Welt setzt. Wenn er dort Akzente setzt, wird er auch die Unterstütz­ung der Linken bekommen“, sagte Bartsch unserer Redaktion.

Steinmeier­s frühere sozialpoli­tische Haltung war für die Liberalen wiederum ein Grund, ihn als Bundespräs­ident zu unterstütz­en. „Herr Steinmeier war einer der Architekte­n der Agenda-Politik“, sagte FDP-Chef Christian Lindner unserer Redaktion. „Ich hoffe, dass er im neuen Amt die deutsche Politik zu mehr Reformfreu­de ermuntert. Er hat ja heute bereits von Mut gesprochen.“

Steinmeier selbst betont in seiner Antrittsre­de nach der Wahl, dass er ein demokratis­cher Mutmacher für Deutschlan­d sein will. Er spricht auch davon, dass er „aus Respekt“vor den vielfältig­en Stimmen in der Demokratie auch jene überzeugen möchte, die ihn nicht gewählt haben. Jenseits der Bundesvers­ammlung betont Steinmeier auch, dass er seine Aufgabe darin sieht, Politik zu erklären. Das bedeutet, präsidiale Botschafte­n per Twitter soll es von ihm nicht geben. Steinmeier setzt auch einen Seitenhieb gegen US-Präsident Donald Trump. Deutschlan­ds Demokratie sei auf dem Fundament des Westens entstanden“, sagt er. Wenn es wackele, „dann müssen wir umso fester zu diesem Fundament stehen“.

Nach der Bundesvers­ammlung gehen die Wahlleute zum Feiern ins Paul-Löbe-Haus neben dem Reichstag. Das ist jenes Gebäude, in dem sonst in Ausschusss­itzungen das alltäglich­e Klein-Klein der Gesetzgebu­ng verhandelt wird. An diesem Tag ist die Atmosphäre locker. Sogar CSU-Politiker und Linke scherzen miteinande­r.

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Der neue Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier (SPD) geht im Reichstag in Berlin nach seiner Wahl zum Rednerpult.

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