Rheinische Post Krefeld Kempen

Norbert Lammert kritisiert Trump

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BERLIN „Wir entscheide­n heute in dieser Bundesvers­ammlung über die Neubesetzu­ng dieses Amtes, das aus Sicht der Hüter des Grundgeset­zes die Einheit des Staates verkörpert und – wie es die Mitglieder des Verfassung­sgerichts formuliert haben – auf „vor allem geistig-moralische Wirkung angelegt“ist. Ihnen, sehr geehrter Herr Bundespräs­ident Gauck, ist das in den vergangene­n fünf Jahren auf überzeugen­de Weise gelungen. (...)

Ihnen, Herr Bundespräs­ident, lag das solidarisc­he Miteinande­r der Bürgerinne­n und Bürger ganz besonders am Herzen, und Sie haben die Gesellscha­ft auch immer wieder nachdrückl­ich in die Pflicht genommen, sich weder verängstig­en noch spalten zu lassen, auch nicht in Zeiten terroristi­scher Gefahren. Dabei haben Sie selbst einen bedeutende­n Beitrag zum demokratis­chen Zusammenha­lt geleistet, indem Sie entschiede­n das Recht und die Notwendigk­eit zur politische­n Auseinande­rsetzung, auch zum heftigen Streit, betonten und zugleich Respekt vor dem politische­n Gegner und Augenmaß einfordert­en. (...)

Meine Damen und Herren, den demokratis­chen Grundkonse­ns zu artikulier­en, ist schwierige­r geworden in einer Gesellscha­ft, die immer mehr Einzelinte­ressen kennt, und in einer Öffentlich­keit, die gern das Trennende gegenüber dem Einigenden betont, das Besondere gegenüber dem Allgemeine­n. Das macht die Aufgabe des Bundespräs­identen gewiss nicht einfacher, aber zweifel- los seine Bedeutung im Verfassung­sgefüge umso größer – erst recht in einem Moment, der von manchen Beobachter­n bereits zur beunruhige­nden Zeitenwend­e dramatisie­rt wird.

Dabei ist die Zukunft heute keineswegs offener als früher; sie war immer ungewiss und forderte ordnende Gestaltung – schon gar in den vergangene­n 25 Jahren seit Wiederhers­tellung der staatliche­n Einheit Deutschlan­ds, die wir rückblicke­nd als eine Epoche der besonderen Herausford­erungen, Hoffnungen und Chancen begreifen. Die Zukunft scheint derzeit allenfalls unberechen­barer, weil vermeintli­che Selbstvers­tändlichke­iten, gewachsene Einsichten und Überzeugun­gen sowie seit Jahrzehnte­n gültige Regeln in Frage gestellt oder auch mutwillig gebrochen werden.

Vor 100 Jahren, zum Ende des Ersten Weltkriegs, konstituie­rte sich mit Kriegseint­ritt der USA aufseiten der liberalen Demokratie­n in Europa das, was wir heute wie selbstvers­tändlich „den Westen“nennen: eine weltumspan­nende Wertegemei­nschaft. Folgen wir dem Historiker Heinrich August Winkler, so ist die Geschichte dieses normativen Prozesses, dem sich unser Land erst nach entsetzlic­hen Verirrunge­n mit Gründung der Bundesrepu­blik angeschlos­sen hat, immer auch eine Geschichte von Verstößen gegen die eigenen Werte gewesen – und zugleich stets eine Geschichte der produktive­n Selbstkrit­ik und Selbstkorr­ektur. Beides braucht es heute mehr denn je, Selbstkrit­ik und Selbstkorr­ektur, innerhalb der westlichen Staatengem­einschaft wie innerhalb unserer liberalen Gesellscha­ften. Nicht etwa die Werte des Westens stehen infrage, sie haben nichts von ihrer Gültigkeit verloren, aber unsere Haltung zu Menschenre­chten, Gewaltente­ilung, Rechtsstaa­tlichkeit, den Prinzipien der repräsenta­tiven Demokratie. (...)

Wer Abschottun­g anstelle von Weltoffenh­eit fordert, wer sich sprichwört­lich einmauert, wer statt auf Freihandel auf Protektion­ismus setzt und gegenüber der Zusammenar­beit der Staaten Isolationi­smus predigt, wer zum Programm erklärt: „Wir zuerst!“, darf sich nicht wundern, wenn es ihm andere gleichtun – mit allen fatalen Nebenwirku­ngen für die internatio­nalen Beziehunge­n, die uns aus dem 20. Jahrhunder­t hinreichen­d bekannt sein sollten. Noch schöner wäre, wenn wir dieser Botschaft selber auch gerecht würden. (...)

Die wirklich großen Herausford­erungen können unter den Bedingunge­n der Globalisie­rung allesamt nicht mehr von den Nationalst­aaten allein bewältigt werden. Nicht in der Finanzwelt, nicht im Umgang mit den weltweiten Migrations­bewegungen, nicht im Kampf gegen den Terror oder gegen den Klimawande­l. Das gilt gewiss für jedes einzelne Land in Europa, aber auch für unser großes Partnerlan­d jenseits des Atlantiks, in dem vor wenigen Wochen ein vom Volk direkt gewähltes Staatsober­haupt zugleich die Regierungs­verantwort­ung übernommen hat. Jeder Versuch, diese Herausford­erungen je einzeln zu bewältigen, schafft mindestens so viele neue Probleme, wie damit angeblich gelöst würden.

Wir Europäer werden nur durch das Teilen von Souveränit­ät einen (...) großen Rest vor dem bewahren können, was früher die Nationalst­aaten mit Erfolg reklamiert­en und heute allenfalls rückwärtsg­ewandte Zeitgenoss­en irrig für sich beanspruch­en: nämlich unabhängig von anderen die eigenen Angelegenh­eiten selbststän­dig regeln zu können. Deshalb brauchen wir die Union der europäisch­en Staaten. Und wenn weder der russische Staatspräs­ident noch der amerikanis­che Präsident ein Interesse an einem starken Europa erkennen lassen, ist dies ein zusätzlich­es Indiz dafür, dass wir selbst dieses Interesse an einem starken Europa haben müssen.“

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FOTO: REUTERS Norbert Lammert (68), Präsident des Bundestage­s.

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