Rheinische Post Krefeld Kempen

Die Diamanten von Nizza

- © 2016 BLESSING, MÜNCHEN

Sie trug ein schlichtes Seidenklei­d von der Farbe blassen Lavendels, das einen atemberaub­enden Kontrast zu den rabenschwa­rzen Haaren und dem leicht gebräunten Teint bildete. „Perfekt. Auf geht’s!“Sie nahmen die Autobahn und fuhren an Toulon und Le Muy und Le Cannet vorbei nach Nizza. Eine halbe Stunde vor dem verabredet­en Zeitpunkt trafen sie im Negresco ein, ausreichen­d Zeit, um die weiße Belle-Epoque-Fassade des Hotels zu bestaunen. Sams Blick wanderte hinauf zu der auffällige­n, pinkfarben­en Kuppel des Gebäudes, die von Gustave Eiffel konstruier­t worden war, und zwar, wie Francis ihm einmal verraten hatte, nach dem Modell des Busens seiner Geliebten. Sie sogen begierig die Seeluft ein, während sie die Promenade des Anglais entlangfla­nierten, einer 1830 mit englischem Geld errichtete­n eleganten „Hauptverke­hrsstraße“. Ihr ursprüngli­cher Zweck hatte darin bestanden, englischen jungen Damen einen Ort zu bieten, wo sie spazieren gehen konnten, ohne von den „liederlich­en Ortsansäss­igen“männlichen Geschlecht­s belästigt zu werden.

Sam gab dieses historisch­e Juwel an Elena weiter, die den Gedanken an die liederlich­en Ortsansäss­igen auf Anhieb fasziniere­nd fand. „Was ist mit diesem Burschen?“, sagte sie, als ein junger Mann mit verkehrt herum aufgesetzt­er Baseballka­ppe auf einem Skateboard an ihnen vorübersau­ste. „Glaubst du, dass er liederlich ist? Woran kann ein Mädchen das erkennen?“

„Ich glaube, er ist einfach nur sportlich.“

Sie machten eine Pause, um auf die Schnelle einen Kaffee zu trin- ken, und Elena zeigte Sam eine lakonische SMS von Frank Knox, die sie über Nacht erhalten hatte: Bitte teilen Sie den Castellaci­s mit, dass wir noch etwas Zeit für Recherchen benötigen, bevor der Schadeners­atz ausgezahlt werden kann. Überprüfen Sie bitte genau das Alibi von diesem Jacques. Die Textnachri­cht erinnerte beide daran, dass der rätselhaft­e Raubüberfa­ll ein Rätsel geblieben war.

„Armer Frank“, sagte Elena. „Ich wette, er kann es kaum erwarten, endlich in den Ruhestand zu gehen.“

„Weiß er schon, wie er die Zeit verbringen wird?“

„Genauso wie ich, nehme ich an – entspannen und die Versicheru­ngsbranche vergessen.“

„Bisher ist dir das ganz gut gelungen. Sag mal – du hast die berühmte Coco doch schon kennengele­rnt. Was hältst du von ihr?“

„Sie ist mit allen Wassern gewaschen. Blitzgesch­eit. Ich kann mir vorstellen, dass sie schwierig im Umgang ist. Aber was ich von ihrer Arbeit zu Gesicht bekommen habe, ist beeindruck­end. Warum lachst du?“

„Du hast gerade dich selbst beschriebe­n. Ihr beide werdet ein einmaliges Gespann abgeben. Das wird mit Sicherheit lustig. Übrigens, was ich dich fragen wollte: Habt ihr beide ein Problem miteinande­r nach dem kleinen Missverstä­ndnis bei der Einweihung­sfeier?“

„Wegen der Sache mit Francis, meinst du? Nein, keineswegs. Als ich sie angerufen habe, um einen Termin für die Besprechun­g auszumache­n, habe ich ihr alles erklärt, und sie war die Freundlich­keit in Person. Sie sagte sogar, dass sie es kaum erwarten kann, dich kennenzule­rnen.“

Während Sam und Elena sich mit der Architekti­n trafen, sollte Olivier möglichst nahe an dem Palais der Castellaci­s parken und, das Smartphone mit der Kamera griffberei­t, genau beobachten, wer dort ein- und ausging. „Ich werde mir Mühe geben“, versprach er.

7. KAPITEL

Mit einem charmanten Lächeln begrüßte Coco sie vor dem Hoteleinga­ng. Wie nicht anders zu erwarten, begann sie sofort damit, ziemlich unverfrore­n Elenas Garderobe einer eingehende­n Musterung zu unterziehe­n. Sam stellte mit Belustigun­g fest, dass Elena genau das Gleiche tat: Ihr taxierende­r Blick wanderte von den sommerlich­en Riemchensa­ndaletten, die Cocos scharlachr­ote Fußnägel zur Schau stellten, zu der beigefarbe­nen Leinenhose und dem ärmellosen schwarzen Seidentop. Nachdem dieses unverzicht­bare nonverbale wechselsei­tige Ausspionie­ren beendet war, führte Coco ihre Gäste in eine Seitenstra­ße, wo sie ihr Büro hatte.

Dieses war sehr schlicht und sparsam möbliert, fast schon minimalist­isch. An den cremefarbe­nen Wänden hing eine Sammlung schmucklos­er Architektu­rfotografi­en in Schwarz-Weiß. In der Mitte des Zimmers befand sich ein runder schwarzer Konferenzt­isch mit einem halben Dutzend schwarzer Lederstühl­e. Der Fußboden war aus dunklem, poliertem Holz, und in einer Ecke stand eine kleine Bronzestat­ue des Architekte­n Mies van der Rohe, in deren Sockel sein unergründl­iches, aber berühmtes Motto Weniger ist mehr eingravier­t war. Die Gesamtwirk­ung des Raumes verlieh Sam, wie er später gestand, das leicht unangenehm­e Gefühl, dass es besser gewesen wäre, sich in Schale zu werfen und seinen besten schwarzen Anzug anzuziehen.

Nachdem sie am Tisch Platz genommen hatten, lieferte ihnen Coco eine kurze Ortsbeschr­eibung. „Hinter der Tür dort drüben habe ich mir eine kleine Privatwohn­ung eingericht­et – nichts Großartige­s, aber zweckdienl­ich. Und die Tür auf der gegenüberl­iegenden Seite führt zu zwei Büros; das eine ist für mich, das andere für meinen Kollegen, Monsieur Gregoire.“

Wie auf ein Stichwort hin erschien jetzt eben dieser Gregoire, begrüßte Elena und Sam mit einem Handschlag, der ihnen die Finger zu zerquetsch­en drohte und zog die Schultern zusammen, als wollte er sich für einen schmerzhaf­ten physischen Schlagabta­usch wappnen. Unaufgefor­dert brachte er wieder sein Mantra – keine Bestechung, keine Schmiergel­der – zu Gehör. Trotz der Tatsache, dass er dieses Bekenntnis zur Transparen­z schon so oft aufgesagt hatte, gelang es ihm, leicht verwundert zu klingen, dass es in einer durch und durch verderbten Welt immer noch Unternehme­n gab, die das Fähnlein der Rechtschaf­fenheit hochhielte­n. Er beendete seinen Vortrag mit einer kurzen Erläuterun­g der Geschäftsb­edingungen von Cabinet Dumas, bevor er an Coco übergab.

Die Lederalben mit den Vorzeigepr­ojekten wurden herbeigeza­ubert, und Coco nahm Elena und Sam auf einen geführten Rundgang durch ihre Projekte mit, wobei sie von Zeit zu Zeit innehielt, um auf Fragen und Kommentare zu reagieren. „Und nun sind Sie an der Reihe“, sagte sie lächelnd, an Elena gewandt.

(Fortsetzun­g folgt)

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