Rheinische Post Krefeld Kempen
Die Diamanten von Nizza
Sie trug ein schlichtes Seidenkleid von der Farbe blassen Lavendels, das einen atemberaubenden Kontrast zu den rabenschwarzen Haaren und dem leicht gebräunten Teint bildete. „Perfekt. Auf geht’s!“Sie nahmen die Autobahn und fuhren an Toulon und Le Muy und Le Cannet vorbei nach Nizza. Eine halbe Stunde vor dem verabredeten Zeitpunkt trafen sie im Negresco ein, ausreichend Zeit, um die weiße Belle-Epoque-Fassade des Hotels zu bestaunen. Sams Blick wanderte hinauf zu der auffälligen, pinkfarbenen Kuppel des Gebäudes, die von Gustave Eiffel konstruiert worden war, und zwar, wie Francis ihm einmal verraten hatte, nach dem Modell des Busens seiner Geliebten. Sie sogen begierig die Seeluft ein, während sie die Promenade des Anglais entlangflanierten, einer 1830 mit englischem Geld errichteten eleganten „Hauptverkehrsstraße“. Ihr ursprünglicher Zweck hatte darin bestanden, englischen jungen Damen einen Ort zu bieten, wo sie spazieren gehen konnten, ohne von den „liederlichen Ortsansässigen“männlichen Geschlechts belästigt zu werden.
Sam gab dieses historische Juwel an Elena weiter, die den Gedanken an die liederlichen Ortsansässigen auf Anhieb faszinierend fand. „Was ist mit diesem Burschen?“, sagte sie, als ein junger Mann mit verkehrt herum aufgesetzter Baseballkappe auf einem Skateboard an ihnen vorübersauste. „Glaubst du, dass er liederlich ist? Woran kann ein Mädchen das erkennen?“
„Ich glaube, er ist einfach nur sportlich.“
Sie machten eine Pause, um auf die Schnelle einen Kaffee zu trin- ken, und Elena zeigte Sam eine lakonische SMS von Frank Knox, die sie über Nacht erhalten hatte: Bitte teilen Sie den Castellacis mit, dass wir noch etwas Zeit für Recherchen benötigen, bevor der Schadenersatz ausgezahlt werden kann. Überprüfen Sie bitte genau das Alibi von diesem Jacques. Die Textnachricht erinnerte beide daran, dass der rätselhafte Raubüberfall ein Rätsel geblieben war.
„Armer Frank“, sagte Elena. „Ich wette, er kann es kaum erwarten, endlich in den Ruhestand zu gehen.“
„Weiß er schon, wie er die Zeit verbringen wird?“
„Genauso wie ich, nehme ich an – entspannen und die Versicherungsbranche vergessen.“
„Bisher ist dir das ganz gut gelungen. Sag mal – du hast die berühmte Coco doch schon kennengelernt. Was hältst du von ihr?“
„Sie ist mit allen Wassern gewaschen. Blitzgescheit. Ich kann mir vorstellen, dass sie schwierig im Umgang ist. Aber was ich von ihrer Arbeit zu Gesicht bekommen habe, ist beeindruckend. Warum lachst du?“
„Du hast gerade dich selbst beschrieben. Ihr beide werdet ein einmaliges Gespann abgeben. Das wird mit Sicherheit lustig. Übrigens, was ich dich fragen wollte: Habt ihr beide ein Problem miteinander nach dem kleinen Missverständnis bei der Einweihungsfeier?“
„Wegen der Sache mit Francis, meinst du? Nein, keineswegs. Als ich sie angerufen habe, um einen Termin für die Besprechung auszumachen, habe ich ihr alles erklärt, und sie war die Freundlichkeit in Person. Sie sagte sogar, dass sie es kaum erwarten kann, dich kennenzulernen.“
Während Sam und Elena sich mit der Architektin trafen, sollte Olivier möglichst nahe an dem Palais der Castellacis parken und, das Smartphone mit der Kamera griffbereit, genau beobachten, wer dort ein- und ausging. „Ich werde mir Mühe geben“, versprach er.
7. KAPITEL
Mit einem charmanten Lächeln begrüßte Coco sie vor dem Hoteleingang. Wie nicht anders zu erwarten, begann sie sofort damit, ziemlich unverfroren Elenas Garderobe einer eingehenden Musterung zu unterziehen. Sam stellte mit Belustigung fest, dass Elena genau das Gleiche tat: Ihr taxierender Blick wanderte von den sommerlichen Riemchensandaletten, die Cocos scharlachrote Fußnägel zur Schau stellten, zu der beigefarbenen Leinenhose und dem ärmellosen schwarzen Seidentop. Nachdem dieses unverzichtbare nonverbale wechselseitige Ausspionieren beendet war, führte Coco ihre Gäste in eine Seitenstraße, wo sie ihr Büro hatte.
Dieses war sehr schlicht und sparsam möbliert, fast schon minimalistisch. An den cremefarbenen Wänden hing eine Sammlung schmuckloser Architekturfotografien in Schwarz-Weiß. In der Mitte des Zimmers befand sich ein runder schwarzer Konferenztisch mit einem halben Dutzend schwarzer Lederstühle. Der Fußboden war aus dunklem, poliertem Holz, und in einer Ecke stand eine kleine Bronzestatue des Architekten Mies van der Rohe, in deren Sockel sein unergründliches, aber berühmtes Motto Weniger ist mehr eingraviert war. Die Gesamtwirkung des Raumes verlieh Sam, wie er später gestand, das leicht unangenehme Gefühl, dass es besser gewesen wäre, sich in Schale zu werfen und seinen besten schwarzen Anzug anzuziehen.
Nachdem sie am Tisch Platz genommen hatten, lieferte ihnen Coco eine kurze Ortsbeschreibung. „Hinter der Tür dort drüben habe ich mir eine kleine Privatwohnung eingerichtet – nichts Großartiges, aber zweckdienlich. Und die Tür auf der gegenüberliegenden Seite führt zu zwei Büros; das eine ist für mich, das andere für meinen Kollegen, Monsieur Gregoire.“
Wie auf ein Stichwort hin erschien jetzt eben dieser Gregoire, begrüßte Elena und Sam mit einem Handschlag, der ihnen die Finger zu zerquetschen drohte und zog die Schultern zusammen, als wollte er sich für einen schmerzhaften physischen Schlagabtausch wappnen. Unaufgefordert brachte er wieder sein Mantra – keine Bestechung, keine Schmiergelder – zu Gehör. Trotz der Tatsache, dass er dieses Bekenntnis zur Transparenz schon so oft aufgesagt hatte, gelang es ihm, leicht verwundert zu klingen, dass es in einer durch und durch verderbten Welt immer noch Unternehmen gab, die das Fähnlein der Rechtschaffenheit hochhielten. Er beendete seinen Vortrag mit einer kurzen Erläuterung der Geschäftsbedingungen von Cabinet Dumas, bevor er an Coco übergab.
Die Lederalben mit den Vorzeigeprojekten wurden herbeigezaubert, und Coco nahm Elena und Sam auf einen geführten Rundgang durch ihre Projekte mit, wobei sie von Zeit zu Zeit innehielt, um auf Fragen und Kommentare zu reagieren. „Und nun sind Sie an der Reihe“, sagte sie lächelnd, an Elena gewandt.
(Fortsetzung folgt)