Rheinische Post Krefeld Kempen
All-Parteien-Koalition gegen Wahlrechtsreform
Dem Bundestag fehlt die Kraft, seine Aufblähung zu stoppen. Die Fraktionen üben sich vorsorglich in Schuldzuweisungen.
BERLIN Freunde des klassischen Altertums können beim aktuellen Wirken von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) an Cato den Älteren denken. So wie jener römische Staatsmann bei jeder Senatssitzung zur Zerstörung Karthagos aufrief („Ceterum censeo...“), mahnt der Parlamentschef die Fraktionen wieder und wieder dazu, das Wahlrecht zu ändern, um einen aufgeblähten Bundestag zu stoppen.
Die Problematik liegt in der neuen Mandatsberechnung. Danach werden für jedes Überhangmandat
Es ist so verführerisch, sich einfach hineingleiten zu lassen in dieses unleidliche Gefühl des Genervtseins. Dann bringt einen alles auf. Dann fährt das Auto vor einem nicht schnell genug; der Kellner im Lieblingscafé hat wieder gar keinen Blick für seine Gäste und daheim wollen sowieso zu viele Menschen gleichzeitig Aufmerksamkeit. Schrecklich, verschwindet, lasst mich in Ruhe!
Genervtheit ist wie ein Filter, der sich vor die Wirklichkeit schiebt. Alles hat dann die falsche Tönung, alles das Potenzial, den Genervten aufbrausen zu lassen. Und natürlich spürt er, dass da zu viel Druck in seinem Inneren ist, dass ein wenig Gelassenheit ihm helfen würde, der Welt freundlicher zu begegnen. Und die Welt damit eine Chance bekäme, ebenfalls freundlich zu sein.
Aber solche Einsichten erreichen den Genervten nicht. Hat er sich erst mal in diese hochexplosive Stim- so lange Ausgleichsmandate verteilt, bis das Zweitstimmenverhältnis wieder stimmt. Was kompliziert klingt, ist im Prinzip einfach: In jedem der 299 Wahlkreise gibt es über die Erststimme einen direkt gewählten Abgeordneten. Im Idealfall kommen 299 weitere Abgeordnete von den Landeslisten hinzu, so dass unterm Strich der Bundestag aus 598 Abgeordneten besteht, die insgesamt exakt dem Zweitstimmenergebnis entsprechen.
Je weniger Stimmen allerdings erforderlich sind, um ein Direktmandat zu bekommen, desto schwieriger wird der Ausgleich. Wenn nun aktuell etwa 32 Prozent bei Union oder SPD ausreichen, wächst die Gefahr, dass die Volksparteien in einem Bundesland mehr Direktmandate bekommen, als ihnen nach ihrem Anteil an den Zweitstimmen dort zustehen. Dann bekommen Grüne, Linke, FDP und AfD, aber auch die andere Volkspartei Ausgleichsmandate, die obendrein durch alle Bundesländer und Wahlbeteiligungen gewichtet werden. Schon bei den Umfragen im Herbst war ein Anwachsen des Bundestages von 631 auf 700 möglich, jetzt sind fast 800 nicht mehr ausgeschlossen. mung des Überdrusses geschraubt, verschafft meist nur Meckern, Beschweren, Von-sich-weisen Erleichterung. Das ist wie Schmutz im Inneren, der heraus muss. Erfreuen kann das niemanden.
Das Gefühl des Genervtseins kann aus Überforderung entstehen. Aus dem Empfinden, dass man inneren wie äußeren Ansprüchen nicht gerecht wird. Dann geht alles nicht schnell genug, wirkt alles unnötig schwierig. Und schuld sind die anderen, die einen aufhalten, die ihr Handwerk nicht richtig verstehen und denen zuzusehen wütend macht. Egal, was sie tun.
Es muss mit der allgemeinen Beschleunigung, der Zunahme an Zerstreuungsmöglichkeiten zu tun haben, dass Genervtheit zunimmt. Ihr Pegel misst den Grad an Überforderung. Man begegnet dem Genervtsein überall im Alltag, in Geschäften, Lokalen, Schulen, im Straßenverkehr. Auch manches von dem, was
So ruft denn Unionsgeschäftsführer Michael Grosse-Brömer SPD und Opposition auf, sich endlich zu bewegen. Die Vorschläge von Lammert seien verfassungsfest, wenn im Grundgesetz die Mitgliederzahl auf 630 gedeckelt werde oder die ersten 15 Überhangmandate nicht mehr ausgeglichen würden. Aus Sicht von SPD und Opposition begünstigte das eindeutig die Union. „Bei einer Deckelung würde das maßgebliche Zweitstimmenverhältnis nicht mehr 1:1 abgebildet“, erläutert Britta Haßelmann von den Grünen.
Für ihre SPD-Kollegin Christine Lambrecht ist die Zahl 630 willkür- man pauschal Hasskommunikation im Internet nennt, hat diesen Ton von Genervtheit angenommen, der überheblich ist. Und nach Überdruss klingt. Und nach verdrängter Wut.
Genervtheit kann zur schlechten Angewohnheit werden. Manche Menschen kommen gar nicht mehr heraus aus dem Gefühl, einerseits überfordert, andererseits von lauter Idioten umgeben zu sein. Es wird diesen Menschen viel Negatives gespiegelt werden, und so verstärkt sich die Wut auf alles und jeden immer weiter. Doch man kann tief durchatmen. Kann sich seiner Ungeduld, seiner Überheblichkeit und seiner Fixierung auf das eigene Ego bewusstwerden. Wer sich eingesteht, nicht alles perfekt zu machen, ist meist auch gnädiger mit den anderen. Schwächen machen stark. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de lich gewählt und offensichtlich verfassungswidrig. Lambrecht plädiert dafür, die Reform gleich zu Beginn der nächsten Wahlperiode anzupacken, schließlich sei der LammertVorschlag ja erst relativ spät gemacht worden. Tatsächlich liegt er nun fast ein Jahr auf dem Tisch, und Lammerts erster dringlicher Hinweis datiert vom 22. Oktober 2013, dem Tag der Konstituierung dieses Bundestages.
Möglicherweise fehlt den Fraktionen inzwischen auch deshalb die Kraft, weil nicht nur Grüne und Linke um ihre Überhangmandate fürchten, sondern auch einzelne Landesverbände von Union und SPD. Wenn nach Berechnungen hundert Sitze an AfD und FDP gehen, fallen diese vor allem bei Union und SPD weg – es sei denn, der Bundestag wird größer. Nach dem alten Motto „Zustimmen, wenn Ablehnung gesichert“, sprach sich die Union nun wieder für den Lammert-Vorschlag aus. Wiewohl (falsche) Gerüchte über neue letzte Anläufe durchs Parlamentsviertel geistern, rechnet niemand mehr damit, dass es klappt. Zudem wächst, so Haßelmann, „mit jedem Tag das Risiko einer Anfechtung“. Dann doch lieber wachsen.
Warum alle ständig genervt sind Im Alltag begegnet man immer öfter genervten Menschen. Sie beschweren sich, maulen herum, herrschen andere an. Oft hat das mit innerem Druck zu tun. Genervtheit ist Ausdruck von Überforderung – und kann zur Gewohnheit werden.