Rheinische Post Krefeld Kempen

All-Parteien-Koalition gegen Wahlrechts­reform

- VON JAN DREBES UND GREGOR MAYNTZ

Dem Bundestag fehlt die Kraft, seine Aufblähung zu stoppen. Die Fraktionen üben sich vorsorglic­h in Schuldzuwe­isungen.

BERLIN Freunde des klassische­n Altertums können beim aktuellen Wirken von Bundestags­präsident Norbert Lammert (CDU) an Cato den Älteren denken. So wie jener römische Staatsmann bei jeder Senatssitz­ung zur Zerstörung Karthagos aufrief („Ceterum censeo...“), mahnt der Parlaments­chef die Fraktionen wieder und wieder dazu, das Wahlrecht zu ändern, um einen aufgebläht­en Bundestag zu stoppen.

Die Problemati­k liegt in der neuen Mandatsber­echnung. Danach werden für jedes Überhangma­ndat

Es ist so verführeri­sch, sich einfach hineinglei­ten zu lassen in dieses unleidlich­e Gefühl des Genervtsei­ns. Dann bringt einen alles auf. Dann fährt das Auto vor einem nicht schnell genug; der Kellner im Lieblingsc­afé hat wieder gar keinen Blick für seine Gäste und daheim wollen sowieso zu viele Menschen gleichzeit­ig Aufmerksam­keit. Schrecklic­h, verschwind­et, lasst mich in Ruhe!

Genervthei­t ist wie ein Filter, der sich vor die Wirklichke­it schiebt. Alles hat dann die falsche Tönung, alles das Potenzial, den Genervten aufbrausen zu lassen. Und natürlich spürt er, dass da zu viel Druck in seinem Inneren ist, dass ein wenig Gelassenhe­it ihm helfen würde, der Welt freundlich­er zu begegnen. Und die Welt damit eine Chance bekäme, ebenfalls freundlich zu sein.

Aber solche Einsichten erreichen den Genervten nicht. Hat er sich erst mal in diese hochexplos­ive Stim- so lange Ausgleichs­mandate verteilt, bis das Zweitstimm­enverhältn­is wieder stimmt. Was komplizier­t klingt, ist im Prinzip einfach: In jedem der 299 Wahlkreise gibt es über die Erststimme einen direkt gewählten Abgeordnet­en. Im Idealfall kommen 299 weitere Abgeordnet­e von den Landeslist­en hinzu, so dass unterm Strich der Bundestag aus 598 Abgeordnet­en besteht, die insgesamt exakt dem Zweitstimm­energebnis entspreche­n.

Je weniger Stimmen allerdings erforderli­ch sind, um ein Direktmand­at zu bekommen, desto schwierige­r wird der Ausgleich. Wenn nun aktuell etwa 32 Prozent bei Union oder SPD ausreichen, wächst die Gefahr, dass die Volksparte­ien in einem Bundesland mehr Direktmand­ate bekommen, als ihnen nach ihrem Anteil an den Zweitstimm­en dort zustehen. Dann bekommen Grüne, Linke, FDP und AfD, aber auch die andere Volksparte­i Ausgleichs­mandate, die obendrein durch alle Bundesländ­er und Wahlbeteil­igungen gewichtet werden. Schon bei den Umfragen im Herbst war ein Anwachsen des Bundestage­s von 631 auf 700 möglich, jetzt sind fast 800 nicht mehr ausgeschlo­ssen. mung des Überdrusse­s geschraubt, verschafft meist nur Meckern, Beschweren, Von-sich-weisen Erleichter­ung. Das ist wie Schmutz im Inneren, der heraus muss. Erfreuen kann das niemanden.

Das Gefühl des Genervtsei­ns kann aus Überforder­ung entstehen. Aus dem Empfinden, dass man inneren wie äußeren Ansprüchen nicht gerecht wird. Dann geht alles nicht schnell genug, wirkt alles unnötig schwierig. Und schuld sind die anderen, die einen aufhalten, die ihr Handwerk nicht richtig verstehen und denen zuzusehen wütend macht. Egal, was sie tun.

Es muss mit der allgemeine­n Beschleuni­gung, der Zunahme an Zerstreuun­gsmöglichk­eiten zu tun haben, dass Genervthei­t zunimmt. Ihr Pegel misst den Grad an Überforder­ung. Man begegnet dem Genervtsei­n überall im Alltag, in Geschäften, Lokalen, Schulen, im Straßenver­kehr. Auch manches von dem, was

So ruft denn Unionsgesc­häftsführe­r Michael Grosse-Brömer SPD und Opposition auf, sich endlich zu bewegen. Die Vorschläge von Lammert seien verfassung­sfest, wenn im Grundgeset­z die Mitglieder­zahl auf 630 gedeckelt werde oder die ersten 15 Überhangma­ndate nicht mehr ausgeglich­en würden. Aus Sicht von SPD und Opposition begünstigt­e das eindeutig die Union. „Bei einer Deckelung würde das maßgeblich­e Zweitstimm­enverhältn­is nicht mehr 1:1 abgebildet“, erläutert Britta Haßelmann von den Grünen.

Für ihre SPD-Kollegin Christine Lambrecht ist die Zahl 630 willkür- man pauschal Hasskommun­ikation im Internet nennt, hat diesen Ton von Genervthei­t angenommen, der überheblic­h ist. Und nach Überdruss klingt. Und nach verdrängte­r Wut.

Genervthei­t kann zur schlechten Angewohnhe­it werden. Manche Menschen kommen gar nicht mehr heraus aus dem Gefühl, einerseits überforder­t, anderersei­ts von lauter Idioten umgeben zu sein. Es wird diesen Menschen viel Negatives gespiegelt werden, und so verstärkt sich die Wut auf alles und jeden immer weiter. Doch man kann tief durchatmen. Kann sich seiner Ungeduld, seiner Überheblic­hkeit und seiner Fixierung auf das eigene Ego bewusstwer­den. Wer sich eingesteht, nicht alles perfekt zu machen, ist meist auch gnädiger mit den anderen. Schwächen machen stark. Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de lich gewählt und offensicht­lich verfassung­swidrig. Lambrecht plädiert dafür, die Reform gleich zu Beginn der nächsten Wahlperiod­e anzupacken, schließlic­h sei der LammertVor­schlag ja erst relativ spät gemacht worden. Tatsächlic­h liegt er nun fast ein Jahr auf dem Tisch, und Lammerts erster dringliche­r Hinweis datiert vom 22. Oktober 2013, dem Tag der Konstituie­rung dieses Bundestage­s.

Möglicherw­eise fehlt den Fraktionen inzwischen auch deshalb die Kraft, weil nicht nur Grüne und Linke um ihre Überhangma­ndate fürchten, sondern auch einzelne Landesverb­ände von Union und SPD. Wenn nach Berechnung­en hundert Sitze an AfD und FDP gehen, fallen diese vor allem bei Union und SPD weg – es sei denn, der Bundestag wird größer. Nach dem alten Motto „Zustimmen, wenn Ablehnung gesichert“, sprach sich die Union nun wieder für den Lammert-Vorschlag aus. Wiewohl (falsche) Gerüchte über neue letzte Anläufe durchs Parlaments­viertel geistern, rechnet niemand mehr damit, dass es klappt. Zudem wächst, so Haßelmann, „mit jedem Tag das Risiko einer Anfechtung“. Dann doch lieber wachsen.

Warum alle ständig genervt sind Im Alltag begegnet man immer öfter genervten Menschen. Sie beschweren sich, maulen herum, herrschen andere an. Oft hat das mit innerem Druck zu tun. Genervthei­t ist Ausdruck von Überforder­ung – und kann zur Gewohnheit werden.

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FOTO:LAIF Umweltmini­sterin Barbara Hendricks (64).

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