Rheinische Post Krefeld Kempen
Sozialdemokratie im Praxistest
Wenn Martin Schulz auf Tour ist, geht es um soziale Gerechtigkeit. Wie also ist es darum in NRW bestellt, wo die SPD regiert?
DUISBURG Die Grillwurst ist verbrannt. Martin Schulz kümmert sich nicht weiter darum, er beißt beherzt ab. In Duisburg-Marxloh bei der Freiwilligen Feuerwehr ist kein Platz für Empfindlichkeiten. Verbrannt heißt hier: gerade gar genug. Hier sagen sie Sätze wie: „Wir sind die Feuerwehr der No-go-Area, es gibt nix, was es in Duisburg nicht gibt.“Und fügen stolz hinzu: „Wir haben noch jedes Feuer ausgekriegt.“
Für den sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten ist es ein Termin, der auf seiner Wahlkampftour perfekt ins Konzept passt: bodenständig, nah bei den Menschen, unter Sympathieträgern. Martin Schulz sagt dann: „Schon seit Wochen bin ich unterwegs, weil ich lernen will, wie die Realität der Menschen auf der Straße aussieht.“
In Marxloh sei er, weil es so viele Vorurteile gebe gegen diesen Duisburger Stadtteil. Hohe Kriminalität, Parallelgesellschaften mit ihren eigenen Gesetzen? „Ganz sicher gibt es hier Probleme“, sagt Schulz, „aber die gibt es überall.“Und dann leitet er zügig über: „Gut, dass es Leute gibt wie Sie, die das ehrenamtlich machen.“Die Gesellschaft drifte auseinander, Feuerwehrleute würden angespuckt und beleidigt. „Es fehlt das Gefühl, dass Einigkeit stark macht.“
Da sind sie wieder, die Dinge, die Schulz zu den Kernthemen seines Wahlkampfs macht: sozialer Zusammenhalt und Gerechtigkeit. „Die, die hart schuften, müssen in diesem Land respektiert werden. Der Staat muss für sie da sein“, sagt er immer wieder. „Wir wollen, dass es in unserem Land gerechter zugeht. Dass die Menschen sicher und gut leben können“, ist auch so ein Satz. Oder: „Wir haben Nachholbedarf bei den Einkommen.“
Im Bund brachten Schulz diese Äußerungen schon den Vorwurf von Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) ein, er rede eine Spaltung des Landes herbei und spiele damit Populisten in die Hände. Zumal die SPD ja in der großen Koalition politische Verantwortung trägt, wenn auch als kleinerer Partner. Das gilt jedoch in NordrheinWestfalen nicht, Rot-Grün regiert ununterbrochen seit sieben Jahren und könnte in dieser Zeit einiges für den sozialen Zusammenhalt und Gerechtigkeit bewirkt haben.
Christoph Schröder, Armutsforscher beim Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), sieht in NRW gegenüber 2008 bei der Einkommensgleichheit indes keine wesentliche Verbesserung. Ein Indiz hierfür sei der Gini-Koeffizient, ein statistisches Maß für die Verteilung der verfügbaren Einkommen. Betrüge die Maßzahl null, wären alle Einkommen gleich verteilt. In NRW liegt dieser Wert seit 2008 relativ konstant bei etwa 0,3 und damit in etwa im Bundesschnitt. „Verbessert hat sich die Lage in dieser Zeit nicht“, resümiert Schröder.
Deutlicher sind die Unterschiede bei der Einkommensarmut, die etwas darüber aussagt, wie groß der Abstand der NRW-Einkommen zum gesellschaftlichen Standard in Deutschland ist. Hier liegt Nord- rhein-Westfalen an letzter Stelle der westdeutschen Flächenländer, wie Schröder errechnet hat. Zwischen 2008 und 2015 sei die Einkommensarmut von 14,7 auf 17,5 Prozent gestiegen, also um 2,8 Prozentpunkte. Im Bundesschnitt war dem arbeitgebernahen Forschungsinstitut zufolge nur ein Anstieg von 1,3 Prozentpunkten im selben Zeitraum zu verzeichnen. Selbst wenn Zuwanderer, die häufig unterdurchschnittlich bezahlt werden, herausgerechnet sind, liege der Anstieg in NRW noch bei 2,2 Prozentpunkten und damit weit über dem Bundesschnitt. Die niedrigeren Einkommen seien auch Folge der geringen Wachstumsdynamik im Land.
„Um diese Ungleichheit und die Einkommensarmut zu dämpfen, steht dem Land eine Vielzahl von Instrumenten zur Verfügung“, meint der Forscher, „eine qualifizierte Ganztagsbetreuung in Kitas und Schulen zum Beispiel, besondere Hilfen für Langzeitarbeitslose und Alleinerziehende, um die Kinderarmut zu bekämpfen, oder eine gezielte Regionalförderung.“
Tatsächlich steuert die Landesregierung auf vielen verschiedenen Ebenen gegen, mit unterschiedlichem Einsatz. Auch Investitionen in Bildung zum Beispiel können dazu beitragen, die Chancengleichheit zu erhöhen. Doch bei den Ausgaben für Schüler rangiert NordrheinWestfalen im Bundesvergleich hinten. Dem Statistischen Bundesamt zufolge gab NRW 2014 pro Schüler nur 5900 Euro aus und lag damit bundesweit an vorletzter Stelle.
Dabei ist zwar zu berücksichtigen, dass sich die Schulstruktur und das Unterrichtsangebot in den Ländern unterscheiden, zum Beispiel in der Ganztagsbetreuung, der Schüler-Lehrer-Relation oder der Besoldungsstruktur. Dennoch wird ein Trend deutlich: Während die Bildungsausgaben je Schüler bundesweit von 2005 bis 2014 um 37 Prozent stiegen, waren es in NordrheinWestfalen lediglich 28 Prozent.
Der Bundesbildungsbericht 2016 zeigt auf, dass sich die in Deutschland auffallenden sozialen Ungleichheiten in NRW besonders in den Städten des Ruhrgebiets zeigen. „Diese Erkenntnis überrascht uns nicht. Deshalb hat die Landesregierung das Projekt ‚Kein Kind zurücklassen‘ gestartet, das überall dort, wo sich die Risikolagen besonders deutlich zeigen, zum Tragen kommen soll“, hatte Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) das Ergebnis kommentiert und auf später vertröstet: Dies sei erst in einigen Jahren in den Statistiken ablesbar.
Fortschritte gibt es beim Ganztagsangebot. Bundesweit bieten 60 Prozent der Schulen die längere Betreuung an, in NRW sind dies über 90 Prozent der Grundschulen. Armutsforschern zufolge wirkt die Ganztagsbetreuung in zweierlei Hinsicht sozialer Ungleichheit entgegen: Weil sie benachteiligten Kindern mehr Hilfe beim Lernen ermöglicht und weil beide Eltern berufstätig sein können.
Doch so tief in die Details steigt Martin Schulz bei seinen Besuchen in NRW bisher nicht ein. Er stehe noch am Anfang, sagt er in Duisburg. Konkreter werden soll es später. Diese Strategie scheint bislang aufzugehen. Auch Meldungen, wonach Schulz sich 2012 als EU-Parlamentspräsident persönlich dafür eingesetzt haben soll, dass sein Vertrauter Markus Engels in den Genuss vorteilhafter Vertragskonditionen kam, konnten seine Beliebtheit bisher nicht schmälern. In einem Schreiben soll er darauf hingewirkt haben, dass Engels auf eine „Langzeitmission“nach Berlin geschickt wurde, wodurch dieser einen Auslandszuschlag von 16 Prozent des Bruttogehalts erhalten habe, berichtete der „Spiegel“. Die SPD betonte, dass es sich dabei um in Brüssel übliche Vertragsgestaltungen handele. Nach Auskunft des EUParlaments ist eine Dauerdienstreise dagegen keineswegs üblich.