Rheinische Post Krefeld Kempen

Augen links, Augen rechts, Rückenschm­erzen weg

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Seit mehr als 40 Jahren lebt Andreas B. (Name der Redaktion bekannt) in der Schmerzhöl­le. In regelmäßig­en Abständen überkommen ihn vom Rücken ausgehende Schmerzatt­acken, die sich durch nichts mildern lassen. Er hat unzählige Therapien ausprobier­t: „Schmerzmed­ikamente über Wochen, mehrere am Tag, Spritzen, Stoßwellen­therapie, Fango und Krankengym­nastik“, sagt er. Vieles davon musste er aus eigener Tasche bezahlen.

Als er zum ersten Mal Kontakt zu Jonas Tesarz von der Uniklinik Heidelberg hat, glaubt er nicht, dass ihm die Therapie helfen kann, die dort innerhalb eines Studienpro­jekts angeboten wird. „Ich habe es für Hokuspokus gehalten“, sagt der 64-Jährige. Doch seine Verzweiflu­ng war groß genug, auch diese Behandlung­smethode auszuprobi­eren: EMDR. Die vier Buchstaben stehen als Abkürzung für „Eye Movement Desensitiz­ation and Reprocessi­ng“.

Die Bezeichnun­g beschreibt den Ablauf der ungewöhnli­chen Therapie. Indem der Patient den Bewegungen eines Fingers von links nach rechts vor seinen Augen folgt, entstehen schnelle Augenbeweg­ungen, die etwas im Gehirn auslösen. „Wie es genau funktionie­rt, wissen wir noch nicht“, sagt Tesarz. Man geht jedoch davon aus, dass durch die Augenbeweg­ungen die Gehirnhälf­ten, ähnlich wie auch in der REMSchlafp­hase, synchronis­iert werden.

Für Andreas B. ist es einen Versuch wert. Nach einer körperlich­en Untersuchu­ng, MRT und Hirnstromm­essungen findet er sich darum im Unikliniku­m Heidelberg skeptisch seinem Therapeute­n Jonas Tesarz gegenüber. Seine Augen folgen den Fingerbewe­gungen seines Arztes. Dabei soll er an seine chronische­n Schmerzen denken. Schmerzen werden im Hirn falsch abgespeich­ert Ziel der Prozedur: „Man versetzt sich gedanklich in eine Belastungs­situation zurück, um sie wieder zu normalisie­ren“, sagt Psychosoma­tiker Tesarz. Denn bei chronische­n Schmerzpat­ienten ist die Verarbeitu­ng von Schmerzemp­findungen im Hirn gestört. Bei lange andauernde­n Schmerzzus­tänden spei- chert das Gehirn die Informatio­n „Schmerz“im emotionale­n Gedächtnis ab. Sie hätte jedoch in einer ganz anderen Hirnregion – dem Thalamus – verarbeite­t werden sollen.

Ein solcher „emotionale­r“Shift ist nach Auffassung des Heidelberg­er Psychosoma­tikers dafür verantwort­lich, dass sich ein Schmerz – ähnlich wie das dauernde innerliche Wiedererle­ben eines schlimmen Ereignisse­s bei einer posttrauma­tischen Belastungs­störung – im Gedächtnis festsetzt. Durch EMDR soll es gelingen, Schmerz und Emotion voneinande­r zu trennen. Rückenschm­erzen, obwohl der Rücken gesund ist Genau so war bei Andreas B. Immer wieder kämpft er über Wochen gegen unerträgli­che Rückenschm­erzen an, für die keine körperlich­e Ursache gefunden werden können. „Ich war in diesen Phasen kaum in der Lage zu sitzen, zu stehen oder zu liegen“, sagt er. Das belastete ihn zusehends auch emotional. Die Unvorherse­hbarkeit nagte ebenfalls an ihm: „Ich erinnere mich daran, dass ich eine Waschbecke­narmatur wechseln musste. Am Vorabend habe ich darüber nachgedach­t, ob ich das wirklich selbst machen soll“, sagt der 64-Jährige. Am nächsten Tag nahm er die Arbeit in Angriff. Es dauerte keine zehn Minuten, bis ihm der Schmerz ins Kreuz schoss und ihn beinahe bewegungsu­nfähig machte.

Für Mediziner Jonas Tesarz, der seit mehr als zehn Jahren an Schmerzaus­lösern forscht und nach Mitteln gegen die Pein sucht, ist klar: Das Schmerzemp­finden wird in solchen Fällen durch Emotionen ausgelöst, die mit einem bestimmten Ereignis in der Vergangenh­eit der Betroffene­n verbunden sind. In solch emotional ähnlichen Situatione­n greift das Gehirn auf die damit verknüpfte Schmerzinf­ormation zu. Darum durchfährt auch Andreas B. trotz eines gesunden Rückens ein unerträgli­cher Kreuzschme­rz. Emotionale Auslöser für die Schmerzen suchen Die dafür verantwort­lichen Ereignisse aufzuspüre­n, ist die detektivis­che Arbeit, der sich Patient und Therapeut beim EMDR stellen müssen. Andreas B. hat für sich herausgefu­nden, welche Ursachen bei ihm dafür verantwort­lich waren. „Ich kann mich beispielsw­eise an eine Straßenbah­nfahrt in jungen Jahren erinnern. Mir ging es sehr schlecht.“Vom Schmerz gequält rutschte er auf dem Straßenbah­nsitz hin und her. Das beobachtet­e eine Frau und fuhr ihn an, er solle endlich ruhig sitzenblei­ben. Andreas B. steigt an der nächsten Haltestell­e aus. Er fühlte sich gedemütigt, missversta­nden und ausgegrenz­t.

Während der 64-Jährige in den EMDR-Sitzungen seinen Blick im Rhythmus des pendelnden Fingers seines Therapeute­n hin und her schweifen lässt, erinnert er sich bewusst an solche Ereignisse. Immer wieder soll er beurteilen, wie er den erinnerten Schmerz einstuft. Zunächst gibt er auf einer Zehnerskal­a den Wert neun an. Doch im Verlauf der Behandlung spürt Andreas B., wie die Intensität abnimmt. „Sie liegt jetzt bei eins bis zwei“, sagt er. Nach der zehnten Sitzung war der Schmerz weg Nach der zehnten Sitzung merkt er beim Verlassen der Uniklinik, dass sich etwas verändert hat: „Die Angst vor dem Schmerz war plötzlich weg. Ich wusste, dass ich mich ruhig strecken kann und keine Schmerzen mehr bekommen würde.“Es war ihm offenbar gelungen, im Kopf Schmerz und Emotion wieder voneinande­r zu trennen. Noch am gleichen Tag rief er Tesarz an. Seine Botschaft: „Ich komme nicht mehr. Wir haben meinen Fehler gefunden.“Seitdem ist der Schmerz nie wieder gekommen. Drei Jahre ist das her.

Neben Studientei­lnehmer Andreas B. ging es vielen Menschen so, die sich auf den Versuch eingelasse­n haben. In klinischen Studien berichten 50 Prozent der Betroffene­n von einer starken Besserung, 20 Prozent der chronische­n Schmerzpat­ienten sogar von einer Heilung der Beschwerde­n, sagt Experte Tesarz. Für die Wirkung von EMDR bei chronische­n Rückenschm­erzen hat er in einer soeben publiziert­en Arbeit gemeinsam mit Wissenscha­ftlern (zu denen auch Internist und Psychosoma­tik-Experte Wolfgang Eich sowie der Psychotrau­matologe Günter H. Seidler gehörten) Belege gefunden.

Dennoch ist die Wissenscha­ft nicht am Ziel. „Es müssen weitere Untersuchu­ngen stattfinde­n. Es ist kein Wunderheil­mittel und zeigt nicht bei allen Effekte“, sagt Tesarz. Doch deute vieles darauf hin, dass sich mit EMDR eine Alternativ­e zu anderen Ansätzen wie einer Verhaltens­therapie ergebe. Vorteil der neuen Behandlung­smethode: Sie braucht nicht viel Zeit, es sind in der Regel nur zwischen fünf und zehn Sitzungen notwendig, und der Betroffene muss im Vergleich zur Verhaltens­therapie wenig auf biografisc­he belastende Ereignisse eingehen. „Es ist also ein niederschw­elliges Angebot“, sagt Tesarz. Diese Stärke nutzt man auch in der Traumather­apie.

In der Behandlung traumatisi­erter Menschen ist EMDR bereits gut erforscht, wird von der WHO empfohlen und seit 2015 sogar von den Krankenkas­sen übernommen. Eingesetzt wird das Verfahren auch bei Menschen, die unter Phantomsch­merzen an amputierte­n Gliedmaßen leiden. Auch bei Migräne und anderen Schmerzsyn­dromen kann EMDR helfen; allerdings ohne Beteiligun­g der Kasse.

Gehirn

Für wen ist EMDR geeignet? EMDR scheint nach derzeitige­m Erkenntnis­stand besonders geeignet für Patienten mit langer Schmerzerf­ahrung sowie solche mit einer hohen emotionale­n Belastung. Als effizient zeige sie sich in der Behandlung von Kopfschmer­zen. Bei Patienten mit einer sehr komplexen Traumatisi­erung, schätzt der Experte, sei die Behandlung­smethode vermutlich weniger erfolgreic­h.

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