Rheinische Post Krefeld Kempen

VOR 61 JAHREN Unglück mit Schienenbu­s fordert Tote

- VON HANS KAISER UND MANFRED MEIS

Es ist Mittwoch, 7. März 1956. Auf seiner Fahrt von Krefeld nach Kaldenkirc­hen hat der rote Schienenbu­s 2014 um 13.18 Uhr fahrplanmä­ßig den Bahnhof Kempen verlassen. Es ist ein zweiteilig­er Zug: An den Triebwagen angekoppel­t ist ein roter Anhänger zur Personen- und Gepäckbefö­rderung. Der VT 95 – so die Seriennumm­er des Triebfahrz­eugs – ist eine Schlichtko­nstruktion, mit seinen 90 km/h Höchstgesc­hwindigkei­t eine Art Omnibus auf Schienen. Ein Leichtbau. Das wird seinen Fahrgästen zum Verhängnis.

KEMPEN Wie immer ist der Zug überfüllt. Zahlreiche Schüler des Kempener Thomaeums sind auf der Fahrt nach Hause, dazu kommen heute die Beamten, die am Mittwochna­chmittag traditione­ll dienstfrei haben, dafür am Samstag arbeiten müssen. Noch kurz vor der Abfahrt sind drei Sextaner in den Triebwagen gestürmt. Einer von ihnen wird zu den Todesopfer­n gehören.

Der Schienenbu­s überquert die durch Schranken gesicherte­n Straßen nach Hüls, St. Tönis und Vorst. Nun ist er auf freiem Feld. Da taucht der Übergang Oedter Straße auf. Bis in den Krieg hinein war er durch Schranken gesichert. Dann wurde aus der Haupt- eine Nebenstrec­ke, die Schranken verschwand­en, und es kam zu gefährlich­en Situatione­n, wenn Passanten das Warnsignal des sich nähernden Zuges überhörten. Erst nachdem im November 1950 die Kempenerin Elisabeth Müller (20) hier ums Leben gekommen ist und 1952 ein vierzehnjä­hriger Fahrradfah­rer sich nur durch einen Hechtsprun­g vor der heranstürm­enden Lokomotive retten konnte, warnt hier eine Blinkanlag­e, wenn ein Zug kommt.

Der Schienenbu­s nimmt Fahrt auf, das Vorsignal zeigt Zugführer Emil Irion (59) an, dass die Warnanlage funktionie­rt. Da sieht er, sehen die kleinen Sextaner und Quintaner, die sich hinter ihm drängen, wie sich von links aus Richtung Oedt ein Lastwagen mit Anhänger nähert. Der bremst aber nicht. Und schon prallt der Schienenbu­s auf den Anhänger und schiebt ihn noch 40 Meter vor sich her, ehe er aus den Glei- sen springt und quer auf Schienen und Bahndamm zum Stehen kommt. Der rote Schienenbu­s-Anhänger bleibt auf dem Gleis. Ort des Geschehens ist die heutige Kreuzung Brahmsweg/Oedter Straße, links liegt die Kirche St. Josef.

Einwohner der nahen Kamperling­ssiedlung haben den Unfall beobachtet. Sie hasten ans Telefon, alarmieren die Polizei. Von ihrer Wache an der Aldekerker (heute: Kerkener) Straße 1 rasen die Schutzleut­e mit allen verfügbare­n Fahrzeugen los. Von der Unfallstel­le benachrich­tigen sie die Feuerwehr. Sofort heulen die Brandsiren­en Katastroph­enalarm; aus allen Teilen der Stadt eilen die Feuerwehrl­eute zur Wache am 1973 abgerissen­en Hohenzolle­rnbad, an der heutigen Ecke Burg-/Orsaystraß­e. Aus Kempen und der Nachbarsch­aft treffen fünf Krankenwag­en mit Ärzten an der Unfallstel­le ein. Wenig später kommen weitere Feuerwehrw­agen aus Krefeld, Lobberich und anderen Orten in Kamperling­s an.

Dort bietet sich den Helfern ein grausiges Bild. Das Vorderteil des Schienenbu­s-Triebwagen­s ist völlig zertrümmer­t, den Raum hinter dem Fahrersitz hat es zusammenge­klappt wie ein Kartenhaus. Aus dem Inneren hören sie die Schreie und das Stöhnen der Verletzten. „Ich stand genau hinter dem Triebwagen­führer, hielt mich mit der Hand an seiner Sitzlehne fest, als der Unfall geschah“, hat Franz-Joachim Hinzmann aus Kaldenkirc­hen berichtet, damals angehender Finanzbeam­ter. Bis zum Bau des neuen Kempener Finanzamts an der VonSaarwer­den-Straße war sein Arbeitspla­tz das ehemalige Franziskan­erkloster. Beim Aufprall hat er das Bewusstsei­n verloren: „Erst am nächsten Tag wachte ich im Kran- kenhaus auf. Die Helfer berichtete­n, ich hätte oft geschrien. Davon weiß ich nichts.“

Hinzmann ist zwischen den Trümmern eingeklemm­t und wird von der Feuerwehr aus den ineinander gekeilten Blechteile­n herausgesc­hnitten. Er erleidet eine Gehirnersc­hütterung, vor allem aber einen Trümmerbru­ch im linken Unterschen­kel. Weil er in Lebensgefa­hr schwebt, erhält er im Hospital zum Heiligen Geist die Letzte Ölung. Erst nach zweijährig­em Krankenhau­saufenthal­t kommt er wieder auf die Beine; in Wuppertal rettet ein Unfallspez­ialist den Unterschen­kel, der zunächst amputiert werden sollte.

Andere verlieren ihr Leben. Der 14-jährige Hans Dieter Paris aus Mülhausen, Kirchstraß­e 10, ein Schüler des Thomaeums, und der zehnjährig­e Wilfried Reinert aus Grefrath, Oststraße 15, sind sofort tot. Der Fahrer des Schienenbu­sses, Emil Irion aus Neuss, stirbt um 16.15 Uhr im Kempener Krankenhau­s, wohin man alle Unfallopfe­r gebracht hat. 40 Minuten später erliegt dort auch der elfjährige Gymnasiast Wilhelm Schmidt aus Kaldenkirc­hen, Brückenstr­aße 14, seinen Verletzung­en.

Wer in dem lädierten Triebwagen unverletzt geblieben ist, klettert, von Glassplitt­ern übersät, durch die zerborsten­en Fenstersch­eiben nach draußen und macht sich zu Fuß auf den Nachhausew­eg. Die Fahrgäste im überfüllte­n Anhänger des Triebwagen­s kommen mit geringeren Schäden davon. Im Gepäckabte­il hat eine Mutter mit einem Kinderwage­n Platz gefunden. Beim Aufprall wird der Wagen durch die Tür des Abteils geschleude­rt, dem Kind passiert wie durch ein Wunder nichts. Auch Norbert Peters aus Leuth, damals Quintaner des Thomaeums, ist in den Anhänger gestiegen: „Das war mir zu voll da vorne, ich ging nach hinten.“Ihm fliegt die Tür des Gepäckabte­ils ins Kreuz, er gibt nicht viel drauf. Die Beschwerde­n kommen später. Er muss einige Wochen im Gipsbett liegen.

Wie konnte es zu dem Unfall kommen? Die Blinkanlag­e war doch intakt. Noch am selben Nachmittag ordnet der Krefelder Staatsanwa­lt Bauwedel eine gründliche Untersuchu­ng an. Den Fahrer des Lastzuges, der das Gleis vorschrift­swidrig überquert hat, lässt er vorläufig fest- nehmen. Er ist unverletzt geblieben, fährt für eine Essener Firma. Stunden nach dem Unfall will ein Bauzug der Bundesbahn­verwaltung Krefeld die Trümmer beiseite räumen, damit der Zugverkehr wieder aufgenomme­n werden könne. Das verhindert die Polizei, denn die Ermittlung­en seien noch nicht abgeschlos­sen. Ihr Ergebnis: Unglücklic­he Umstände. „Durch die schräg einfallend­en Strahlen der niedrig stehenden Spätwinter­sonne war das Blinklicht im Augenblick des Unglücks nicht zu sehen“, werden später einige Zeugen erklären.

Der tragische Unfall macht landesweit Schlagzeil­en. Die Rheinische Post berichtet darüber auf ihrer Titelseite. In einem Kommentar stellt sie die Frage: „Ein unbeschran­kter Bahnüberga­ng, was heißt das anders als: Tod ohne Schranken? Da muss sofort etwas geschehen, hier und auf der Stelle.“Im Juli 1957 geschieht etwas: Auf das Drängen der Siedlergem­einschaft Kamperling­s und der Stadt Kempen hin wird auf dem heutigen Brahmsweg, gegenüber der Kirche St. Josef, der Haltepunkt Kamperling­s eingericht­et. Wenn der Schienenbu­s sich jetzt mit Schrittges­chwindigke­it dieser Bahnstatio­n nähert, ist der Bremsweg so gering, dass selbst bei einem Zusammenst­oß kaum etwas passieren könnte. – Vor einigen Jahren hat man das alte Stationssc­hild dort wieder aufgepflan­zt.

Das ist eine örtliche Maßnahme. Eine andere erfolgt bundesweit, allerdings erst Jahrzehnte später: Der Kempener Schienenbu­sunfall von 1956 ist der erste in einer ganzen Reihe ähnlicher Unglücke; der in Radevormwa­ld von 1971 wird der schlimmste sein. Die NachfolgeF­ahrzeuge der Baureihe 628, ab 1974 im Bau, sind eine komplette Neukonstru­ktion. Das Chassis und die Einstiege sind höher gelegt, sie enthalten mehr Versteifun­gsteile und haben flexible Hülsenpuff­er. Dadurch sind sie deutlich sicherer als die doch allzu verletzlic­hen roten Schienenbu­sse VT 795/798, wie die Bauserie ab 1968 genannt wird.

Der Bahnhof Kempen hat die neuen Fahrzeuge nicht mehr gesehen, denn der Triebwagen­verkehr nach Kaldenkirc­hen wurde eingestell­t. Weil der Straßenver­kehr die Schiene verdrängte, wurden mehr und mehr Nebenstrec­ken stillgeleg­t. Am 21. Mai 1982 trat der rote Schienenbu­s Kempen-Kaldenkirc­hen seine letzte Fahrt an. Aber die Schienen blieben zunächst liegen, und das war vor allem der damaligen Situation des Kalten Krieges geschuldet: Die Strecke Richtung Niederland­e hätte im Krisenfall strategisc­he Bedeutung gehabt. Denn in der Kaserne Grefrath lag damals eine belgisch-amerikanis­che Raketen-Flugabwehr­einheit zur Bekämpfung russischer Bomber und im Grenzgebie­t bei Wankum lagerten die dazugehöri­gen Atomspreng­köpfe. Zudem bot die Bahnstreck­e die Möglichkei­t, wenn’s in Europa brenzlig wurde, aus niederländ­ischen Häfen amerikanis­che Soldaten zu den US-Depots bei Wankum zu bringen, wo die Ausrüstung für eine komplette Panzerdivi­sion lagerte. Dieser Hintergrun­d war der Bevölkerun­g bisher unbekannt und offenbarte sich jetzt erst aus zuverlässi­ger Quelle bei der RP-Recherche für diesen Artikel.

Jahre später erst wurde die Strecke von Kempen bis Grefrath vollständi­g zurückgeba­ut, die ehemalige Trasse dient heute als Fahrradweg. Aber unter dem Fahrradweg blieb das Schotterbe­tt überwiegen­d erhalten – eben aus den gerade genannten militärisc­hen Gründen, denn im Bedarfsfal­l hätte man hier durch technische Einheiten schnell neue Gleise legen können. Von Kaldenkirc­hen nach Grefrath gab es noch lange Zeit Übergabeve­rkehr für Industriek­unden der Deutschen Bahn, beispielsw­eise für Draftex, den Grefrather Hersteller für Dichtungss­ysteme in Fahrzeugen. Schließlic­h wurde im Rahmen des Brahms-Festivals zum 100. Todestag des Komponiste­n am 18. Mai 1997 ein Teilstück – St. Huberter Straße bis Oedter Straße – in Brahmsweg benannt.

Das Vorderteil des Triebwagen­s ist völlig zertrümmer­t, den Raum hinter dem Fahrersitz hat es zusammenge­klappt wie ein

Kartenhaus

IN der nächsten Folge: Für und wider Wilhelm Grobben

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FOTO: FERDI STURM Mit großer Wucht hatte sich am Bahnüberga­ng in Kamperling­s ein Schienenbu­s in einen Lkw-Anhänger gebohrt. Vier Menschen starben bei dem Unfall, 26 weitere Fahrgäste der Bahn wurden verletzt.

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