Rheinische Post Krefeld Kempen

Besuch in Deutschlan­ds einziger Exklave

- VON MARCO LAUER

Wie einst West-Berlin ist Büsingen eine Insel. Ein Flecken Deutschlan­d in der Schweiz, dessen Bewohner mit ihren zwei Identitäte­n jonglieren.

BÜSINGEN Ein ganz normales Dorf. Zwei Lebensmitt­elläden für das Nötige, eine Bank für das Weltliche, für das Leibliche drei Gaststätte­n und zwei Kirchen für das Erbauliche. Vor zehn Jahren hatte Büsingen 1600 Einwohner, heute 200 weniger. Häuser in schlichter 60er-Jahre-Architektu­r stehen Spalier entlang der Durchgangs­straße.

Ein ganz normales Dorf. Fast. Es liegt im Landkreis Konstanz, Südbaden, auf halber Strecke zwischen Basel und Bodensee. Auf den gelben Ortsausgan­gsschilder­n liest man über einem durchgestr­ichenen „Büsingen“: Schweiz. Auf jenen Richtung Norden, Osten und Westen. Büsingen ist Deutschlan­ds einzige Exklave. Eine Insel, umgeben nicht von Wasser, sondern einem anderen Land. Ein deutsches Dorf, das von Deutschlan­d nur zu erreichen ist über zwei winzige Schweizer Zollstatio­nen, die wenige Kilometer vor Büsingen unwirklich in der sanften Hügellands­chaft stehen.

In diesem Ort ist alles ein wenig anders als im Rest der Republik. Einer, der sich gut mit diesen Eigenheite­n auskennt, ist Markus Möll, randlose Brille, getrimmter Vollbart, weicher Dialekt, 51 Jahre alt, Bürgermeis­ter Büsingens im dritten Amtsjahr, der in seinem Büro im ersten Stock des Rathauses empfängt. Seine Gemeinde bezeichnet er lächelnd und in Anlehnung an seinen Vorgänger gerne als „WestBerlin in Miniaturau­sgabe“. Umgeben allerdings nicht vom dunklen Kommunismu­s, sondern nur von der lieblichen Schweiz.

„Das Leben der Büsinger“, sagt Möll, „orientiert sich eher Richtung Westen statt nach Osten.“Im Westen Büsingens liegt nur einen Steinwurf entfernt die 34.000-Einwohner-Stadt Schaffhaus­en, Hauptstadt des gleichnami­gen Kantons, der man sich hier nicht nur geografisc­h näher fühlt als Konstanz, 20 Kilometer im Osten gelegen. Tatsächlic­h macht sich der Einfluss der umliegende­n Schweiz überall bemerkbar im Ort. In der „Milchzentr­ale Büsingen“zum Beispiel, dem kleinen Lebensmitt­elladen gegenüber dem Rathaus. Wo andere Geschäfte vor Jahren viel Arbeit damit hatten, die Auszeichnu­ng der Preise von Mark auf Euro umzustelle­n, ging man hier dem Tagesgesch­äft nach. Seit Langem schon zahlt man in Büsingen mit Schweizer Franken. Und man zahlt damit für Schweizer Lebensmitt­el. Denn weder Käse noch Konserven, Wurst oder Fleisch kommen aus dem „deutschen Mutterland“. Zu teuer, die Waren extra von dort einzuführe­n. Wegen des Zolls.

Denn seit 19. Juli 1967 besteht zwischen Deutschlan­d und der Eidgenosse­nschaft ein Staatsvert­rag, der Büsingen zu schweizeri­schem Zollgebiet erklärt. Wirtschaft­lich gehört der Ort seitdem also zur Schweiz. Im Staatsvert­rag wurde auch festgehalt­en, dass indirekte Steuern fortan von der Schweiz erhoben werden. Also auch jene auf Mineralöl. So dass die Tankstelle in Büsingen das billigste Benzin hat, weil die Eidgenosse­nschaft darauf weniger Steuern erhebt.

Eine Tankstelle, die zumeist angesteuer­t wird von Autos mit dem seltensten Kennzeiche­n Deutschlan­ds: „BÜS“. Weil damit nur rund 400 Fahrzeuge beim zuständige­n Landratsam­t im fernen Konstanz registrier­t sind, ist nur eine einzige Kombinatio­n darauf zu lesen: „BÜS-A“. Mit ein-, zwei- oder dreistelli­ger Nummer dahinter. Das spezielle Kennzeiche­n erleichter­t Schweizer Zöllnern die Arbeit, erkennen sie daran doch sofort den Büsinger. Der an der Schweizer Grenze wie ein Landsmann behandelt wird.

Bei der Post prangen über dem Eingang die zwei verschiede­nen Postleitza­hlen des Ortes: 8238 die schweizeri­sche, 78266 die deutsche. Auf dem Rathauspla­tz stehen zwei Telefonzel­len, die der Telekom und jene der Swisscom. Der beiden unterschie­dlichen Vorwahlen wegen. Nur Bürgermeis­ter Lang hat einen Apparat, mit dem er in beide Netze kommt. Mit der Null am Anfang telefonier­t er in Deutschlan­d, mit der Neun davor in der Schweiz – immer zum Inlandstar­if. Ein Ortsvorste­her mit internatio­naler Anbindung, regiert er doch schließlic­h nicht nur ein Dorf, sondern ein kleines Deutschlan­d, wenn auch mit sieben Quadratkil­ometer Gemarkungs­fläche eines im Modellbahn­maßstab.

Der FC Büsingen, der Fußballclu­b des Orts, ist zwar dem DFB angeschlos­sen, spielt aber in der dritten Schweizer Liga. Die deutsche Polizei darf maximal drei Prozent der Be-

Alwin Güntert (88) völkerungs­zahl Büsingens an Beamten entsenden, die Schweizer Polizei maximal zehn Beamte insgesamt. Viele Besonderhe­iten, die das Leben hier ein bisschen anders machen. Schwierige­r im Grunde kaum.

Nun aber, im Rathaus, bei Kaffee und Mineralwas­ser, mischt sich ein wenig Besorgnis in die Stimme des Bürgermeis­ters. Kommen jetzt doch wenig vergnüglic­he Vokabeln über den großen Konferenzt­isch: Einwohners­chwund, Vergreisun­g, Minderheit­endiskrimi­nierung. „Fast alle von uns arbeiten in der Schweiz“, sagt Möll. Die meisten davon in Schaffhaus­en. Das Problem: Dort müssen sie die hohen Schweizer Sozialvers­icherungsb­eiträge zahlen. Und gleichzeit­ig deutsche Einkommens­teuer auf ihre Franken-Gehälter, die wiederum viel höher ist als jene in der Schweiz. So setzten spätestens mit dem Freizügigk­eitsabkomm­en zwischen Deutschlan­d und der Schweiz im Jahr 2002 „zwei Migrations­ströme ein“, wie Möll es nennt. So dass in den vergangene­n zwölf Jahren fast 200, zumeist jüngere Büsinger mit ihren Familien einfach einige Meter und ein Land weiter zogen – und nur noch halb so viel Steuer zahlten. Gleichzeit­ig begann eine Zuwanderun­gswelle in die andere Richtung. Schweizer Pensionäre kamen nach Büsingen, um ihre Rente unversteu- ert zu genießen, was ihnen in der Schweiz nicht vergönnt ist. Damit stieg der Altersdurc­hschnitt Büsingens von 45 auf mittlerwei­le fast 58 Jahre, so hoch wie in keiner anderen Gemeinde Deutschlan­ds.

Ein weiteres Problem, das über Gemeindera­tssitzunge­n wie Stammtisch­runden schwebt, ist die Frage nach der Wahlberech­tigung. Alteingese­ssene Schweizer in Büsingen, deren Anteil an der Bevölkerun­g im Ort bei über 30 Prozent liegt, sind von kommunalen Wahlen ausgeschlo­ssen. Was Unmut auslöst, da sich manche als Bürger zweiter Klasse fühlen. „Was ja auch verständli­ch ist“, befindet Möll. Doch ihm sind die Hände gebunden, weil bei der Landesregi­erung in Stuttgart, in Berlin oder gar der EU in Brüssel andere Themen auf der Agenda stehen als eine Wahlrechts­reform im kleinen Büsingen.

Fährt man ans andere Ende des Ortes, findet man in der Stube seines Bauernhofe­s Alwin Güntert, einen schmalen Mann mit kräftigen Händen und kantigem Gesicht, 88 Jahre alt, Landwirt, einer von drei Ehrenbürge­rn Büsingens, weil er fast 30 Jahre lang im Gemeindera­t saß. Als Güntert 1947 gerade seine Lehre zum Landwirt abgeschlos­sen hatte, versuchte man in Büsingen, sich der Schweiz anzuschlie­ßen. Weil Deutschlan­d am Boden lag und man deshalb eine gute Chance sah, sich davon zu lösen. Weil, wie er sagt, „wir vom Herzen her einfach mehr Schweizer sind als Deutsche“. Da die Schweiz aber wegen des in ihrer Verfassung festgeschr­iebenen Neutralitä­tsprinzips ihr Territoriu­m um keinen Quadratmet­er vergrößern darf, blieb es wie zuvor. Wobei das vielleicht gar nicht so schlecht gewesen sei, sagt Güntert heute. Für das Gemeinscha­ftsgefühl im Ort. „Wie das wohl üblich ist bei Inselbewoh­nern“, sagt er und lacht.

„Vom Herzen her sind

wir einfach mehr Schweizer als Deutsche“

Ehrenbürge­r von Büsingen

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FOTOS: DPA Sieben Quadratkil­ometer Deutschlan­d, die aber seit 1967 wirtschaft­lich zur Schweiz gehören – man muss also eine Zollschran­ke passieren, wenn man nach Büsingen will.
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Ein Dorf, aber zwei Telefonnet­ze und auch zwei Postleitza­hlen.

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