Rheinische Post Krefeld Kempen

Therapie hinter Schloss und Riegel

- VON MARTINA STÖCKER

Psychisch kranke Straftäter kommen nicht in Haft, sondern in den Maßregelvo­llzug – und zwar auf unbestimmt­e Zeit.

DÜSSELDORF Zwei Taten in Düsseldorf haben die Menschen in NRW in den vergangene­n Tagen erschütter­t: Ein Mann schlägt wahllos mit einer Axt auf Passagiere einer S-Bahn am Hauptbahnh­of ein und verletzt neun Menschen; ein 16-Jähriger tötet ein Mädchen (15). Beide Täter sind laut Staatsanwa­ltschaft schizophre­n und damit schuldunfä­hig. Sie werden wohl nicht in Haft, sondern in den Maßregelvo­llzug kommen. Sind psychisch kranke Menschen gefährlich­er als gesunde? Nein. Wenn man Patienten aller Erkrankung­sarten den Gesunden gegenübers­tellt, gibt es kein potenziert­es Risiko zu Gewalttate­n. „Es gibt aber einzelne Erkrankung­en, zu denen Schizophre­nie gehört, die – wenn nicht gut behandelt – durchaus mit einem erhöhten Risiko verbunden sind“, sagt Arno Deister, Präsident der Deutschen Gesellscha­ft für Psychiatri­e und Psychother­apie, Psychosoma­tik und Nervenheil­kunde und Chefarzt des Zentrums für Psychosozi­ale Medizin am Klinikum Itzehoe. Was ist der Maßregelvo­llzug? Psychisch Kranke sind vermindert oder gar nicht schuldfähi­g. Sie kommen in den Maßregelvo­llzug (forensisch­e Psychiatri­e). Er ist kein Gefängnis, sondern Teil eines psychiatri­schen Krankenhau­ses. „Die Mauern dort sind genauso hoch wie im Gefängnis“, betont Deister. Die Unterbring­ung von suchtkrank­en Straftäter­n ist in der Regel begrenzt auf zwei Jahre, die der psychisch kranken Straftäter unbegrenzt. Jährlich wird bei der zuständige­n Strafvolls­treckungsk­ammer am Landgerich­t überprüft, ob die Unterbring­ung noch gerechtfer­tigt ist, erklärt Jutta Muysers, Ärztliche Direktorin einer Klinik des Landschaft­sverbands Rheinland (LVR) in Langenfeld. „Nicht die Heilung einer Erkrankung entscheide­t über die Entlassung, sondern die reduzierte Gefährlich­keit“, sagt Muysers. In ihrer Klinik werden 180 Patienten betreut, davon acht in einer offenen Rehabilita­tionsstati­on. Der Anteil der Frauen an den Patienten liegt bei unter zehn Prozent. Wie sieht der Therapie-Alltag aus? Entlassen wird nur der, der sich mit Erfolg am therapeuti­schen Programm beteiligt. Es besteht aus verschiede­nen Therapien, darunter aus Einzel-, Gruppen-, Arbeits-, Sport- und Soziothera­pie, in der Patienten lernen, im Alltag draußen zurechtzuk­ommen. Ab einem bestimmten Tag X besteht die Möglichkei­t, sogenannte Lockerunge­n zu erteilen, sagt Muysers. Das be- deutet Ausgang allein oder in Begleitung auf dem Gelände, sehr viel später auch Ausgänge in Begleitung oder alleine in die Stadt oder auch Tages- oder Wochenend-Urlaube. Bedingung dafür ist, dass eine Fallkonfer­enz in der Klinik die reduzierte Gefährlich­keit festgestel­lt hat. Wann wird entlassen? Besonders Schizophre­ne müssen ein Krankheits­verständni­s entwickeln. Das heißt, sie müssen dauerhaft bereit sein, Medikament­e einzunehme­n. Generell wird nur der entlassen, bei dem die Klinik, ein externer Gutachter sowie ein Gericht festgestel­lt haben, dass er keine Gefahr mehr für andere darstellt. Wie lange bleiben Täter? „ Menschen sitzen im Maßregelvo­llzug doppelt so lange, als wenn sie für ihre Tat eine Haftstrafe bekommen hätten“, stellt Deister fest. In Deutschlan­d sind das im Durchschni­tt etwa acht Jahre, die ein Mensch in der Forensik verbringt. „Es ist schon anstrengen­der, sich mit sich selbst zu befassen und an sich zu arbeiten, als eine Haftstrafe abzusitzen“, sagt Muysers. Nur diejenigen, die die Therapie mit Erfolg absolviere­n, dürfen in die Freiheit. „Die anderen bleiben – einige unserer Patienten sind hier weit über 20 Jahre“, sagt Muysers. Was geschieht nach der Entlassung? „Niemand wird ohne Auflagen ent- lassen“, betont Muysers. Diese bedeuten zum Beispiel eine ambulante Nachbehand­lung und Kontrollen, bei denen etwa die Arznei-Einnahme überprüft wird. „So können wir in Krisensitu­ationen eingreifen, bevor es zu einer Straftat kommt.“ Wie wirksam ist die Forensik? Laut Muysers haben sich Zwischenfä­lle – etwa, dass Menschen bei Lockerunge­n verschwund­en sind – in den vergangene­n 20 Jahren extrem reduziert. „Das heißt, wir haben viel besser verstanden, was wir tun müssen.“Die Rückfallqu­ote liege nach der Forensik unter zehn Prozent, nach einer Haft bei 30 Prozent. Rückfälle bedeuten nicht unbedingt schwere Straftaten. Wie viele Menschen sind psychisch krank? Etwa ein Drittel der Deutschen werde irgendwann im Leben einmal psychisch krank, sagt Manfred Lütz, Chefarzt im Fachkranke­nhaus für Psychiatri­e, Psychother­apie und Neurologie der Alexianer in Köln. Etwa eine Million Deutsche ist schizophre­n. „Jeder kennt jemanden, der schizophre­n ist, aber er merkt es nicht“, sagt Lütz. Denn ein Drittel der Schizophre­nen werde wieder völlig gesund, zwei Drittel würden wieder berufsfähi­g, und nur ein Drittel sei chronisch krank, könne aber mit den heute zur Verfügung stehenden Hilfen ein erfülltes Leben führen. „Dass Tötungshan­d- lungen von Schizophre­nen besondere Aufmerksam­keit erregen, ist vor allem ein Medieneffe­kt, denn solche Taten sind bei Schizophre­nen oft skurril oder drastisch.“Über die vielen anderen Tötungsdel­ikte würde viel weniger berichtet. Wie kommt man in eine Klinik? Psychisch Kranke können gegen ihren Willen eingewiese­n werden, wenn sie „gegenwärti­g selbst- oder fremdgefäh­rdend“sind. „Wenn man den Eindruck hat, dass ein solches schadensti­ftendes Ereignis unmittelba­r bevorsteht und man keine freiwillig­e Aufnahme erreichen kann, sollte man den Notarzt rufen“, rät Lütz. Dieser könne eine solche Einweisung in die Wege leiten. Er muss die psychische Krankheit und die Gefährdung feststelle­n und das dem Ordnungsam­t mitteilen. Das kann auf dieser Grundlage die Zwangseinw­eisung anordnen, die dann gegebenenf­alls mit Hilfe der Polizei durchgefüh­rt wird. Binnen 24 Stunden muss ein Richter feststelle­n, ob die Einweisung aufrechter­halten wird. „Zwangseinw­eisungen sind vergleichs­weise selten, die meisten Patienten kommen freiwillig“, betont Lütz, der auch feststellt: Natürlich sind nicht alle Suizide und Fremdaggre­ssionen zu verhindern. Wie ist es um die stationäre Versorgung bestellt? In Deutschlan­d gibt es die sogenannte Pflichtver­sor- gung, sagt Lütz. Für jeden Ort in Deutschlan­d gibt es eine zuständige psychiatri­sche Klinik, wo ein stationär behandlung­sbedürftig­er Patient das Recht hat, sofort aufgenomme­n zu werden. Die stationäre Versorgung sei inzwischen sehr gut, die NRW-Landesregi­erung habe sogar die Bettenzahl erhöht. Künftig gibt es 20.332 Plätze auf Stationen und in Tagesklini­ken. Wie gut ist die ambulante Versorgung? Dort gibt es laut Deister Defizite. „Die Möglichkei­ten zur ambulanten Versorgung von Menschen mit schweren psychische­n Erkrankung­en sind in Deutschlan­d oft nicht ausreichen­d.“Es gebe ambulant zu wenig psychiatri­sch tätige Ärzte. Mit ein Grund: Die Bezahlung ist zu gering. Im Durchschni­tt bekommen Psychiater pro Patient 50 bis 60 Euro pro Quartal, unabhängig vom Aufwand. Ein weiteres Problem: Zu viele Menschen werden psychother­apeutisch behandelt, die eigentlich ein Coaching oder mehr Beratung benötigen. „Somit fehlen für Schwerkran­ke wie Schizophre­ne Ressourcen“, sagt Deister. Für die Genesung sei Behandlung­skonstanz besonders wichtig. Das heißt, Kranke werden eng von einem Arzt betreut, dem auch Veränderun­gen auffallen und an den sie sich wenden, wenn sie sich schlechter fühlen. Diese Konstanz bleibt oft außen vor, sagt Deister.

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FOTO: DPA Psychisch kranke Menschen sitzen im Maßregelvo­llzug doppelt so lange, als wenn sie für ihre Tat eine Haftstrafe bekommen hätten, sagen Experten.

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