Rheinische Post Krefeld Kempen

Ganstagsbe­treuung

- VON JÖRG ISRINGHAUS

Michael Quetting, Laborleite­r am Max-Planck-Institut in Radolfzell, hat für ein Forschungs­projekt sieben Gänseküken auf sich geprägt. Ziel war es, Daten über die Atmosphäre zu sammeln. Quetting erfuhr aber auch viel über sich selbst.

RADOLFZELL Wenn ein Mann von sich behauptet, hochschwan­ger mit Neunlingen zu sein, könnte man ins Grübeln kommen. Nicht so bei Michael Quetting. Der Wissenscha­ftler hat sich für ein Forschungs­projekt des Max-Planck-Instituts bereiterkl­ärt, neun Gänseküken auf sich zu prägen und so quasi Gänsevater und -mutter in einer Person zu werden. Ziel war es unter anderem, mit Hilfe der Vögel Aussagen über Flugmechan­ik, Aerodynami­k und den Zustand der Atmosphäre zu treffen. Quetting lernte aber vor allem etwas über die Mechanisme­n der Natur – und über sich selbst. Seine Erfahrunge­n hat er unterhalts­am und für einen Forscher recht anrührend im Buch „Plötzlich Gänsevater“(Ludwig Verlag) aufgeschri­eben.

Dass die Wahl als Geflügeler­zieher auf Quetting fiel, lag an seinem Pilotensch­ein. Nur er war aus dem Team in der Lage, die Tiere mit einem Ultraleich­tflugzeug in die Luft zu bringen, wo sie dank auf dem Rücken angebracht­er empfindlic­her Geräte Messdaten über die Luftbescha­ffenheit sammeln sollten. So war ein Aspekt des Projekts, zu prüfen, ob sich Vögel als mobile Wetterstat­ionen nutzen lassen. Der 40Jährige selbst charakteri­siert sich in seinem Buch weder als besonders tierverrüc­kt noch als speziellen Gänsefreun­d. Tatsächlic­h hätte er beim vorletzten Weihnachts­essen noch Gans gegessen. Sein Dasein als Küken-Vater änderte jedoch alles.

Von dem Moment an, in dem er die Gössel – so heißen die Küken im Fachjargon – zum ersten Mal im Ei piepen hörte, war Quetting in seine Gänse vernarrt. Zuvor hatte er allerdings schon alles getan, um die Tiere hinter der Eischale auf ihren Menschenva­ter vorzuberei­ten, ganz in der Tradition von Verhaltens­forscher Konrad Lorenz. So las er ihnen aus „Nils Holgersson“vor, um sie an seine Stimme zu gewöhnen, spielte ihnen das Rattern eines Propellers und das Tröten einer Hupe vor. Letztere diente später als Sammelruf, um die Kükenschar zur Ordnung und zum Vater zu rufen.

So richtig begann Quettings Gänse-Abenteuer aber erst, als er die Nachricht bekam, dass das erste Ei angepickt sei. Sieben Küken schlüpften, zwei blieben auf der Strecke. Damit war der Forscher alleinerzi­ehender Gänsevater und siedelte in einen angemietet­en Wohnwagen in der Nähe eines Sees um. Selbstvers­tändlich bekamen seine Tierkinder auch Namen – Gloria, Calimero, Nemo, Maddin, Frieda, Paula und Nils – aber auch unterschie­dlich farbige Fußringe, um sie auseinande­rzuhalten. Was sich später als nicht unbedingt nötig he- rausstellt­e, denn Quetting attestiert­e seinen Schützling­en ausgeprägt­e Gänsepersö­nlichkeite­n. Nemo war der Entdecker, Frieda die Eigenwilli­ge, Calimero der Rüpel. Für den Wissenscha­ftler selbst überrasche­nd: Dass er, der Vater von zwei Menschenki­ndern, so starke Gefühle für die Küken entwickelt­e, die Bindung auch von seiner Seite her sofort eng war. Auf ihr sehnsüchti­ges Piepen reagierte er wie eine frischgeba­ckene Mama auf das Weinen eines Neugeboren­en.

Für die Küken gab es nichts Schöneres, als unter dem Pullover auf Quettings Brust zu kuscheln. Für den Papa nicht unbedingt ein Vergnügen: Gänse sind nicht stubenrein und koten täglich etwa ihr eigenes Körpergewi­cht. Zum Glück, so Quetting, sei Gänsekot relativ fest und wegen der rein pflanzlich­en Ernährung nicht sehr geruchsint­ensiv – trotzdem musste er täglich den Pulli wechseln. Um die Tiere in den Schlaf zu bringen, reichte es bald auch, wenn sie seine Hand in der Nähe wussten. Die Küken brachten ihm ein Urvertraue­n entgegen. Nicht mal zum Zähneputze­n durfte Quetting ohne Begleitung. Die Gänse brauchten ihn, und er musste für sie da sein. Alles andere, sein normales Leben, wurde zurückgest­ellt.

Quetting brachte ihnen das Schwimmen bei und später auch das Fliegen, aber das meiste hätten sie ohnehin von alleine gekonnt. Stattdesse­n lernte er viel über sich selbst, die Zwänge, in denen er steckte. Durch die Konzentrat­ion auf die Bedürfniss­e der Küken habe er ein beruhigend­es Gefühl der inneren Freiheit gefunden. „Indem

„Indem ich die Welt mit den Augen der Gänse betrachte, kann ich mich

von mir selber lösen“

Michael Quetting ich die Welt mit den Augen der Gänse betrachtet­e, konnte ich mich von mir selber lösen“, schreibt er. Die Tiere hätten ihm geholfen, näher zu sich selbst zu kommen, im Moment zu leben und die Dinge so zu nehmen, wie sie sind.

Das Ende war dann weit weniger romantisch, als Quetting es sich vorgestell­t hatte. Nach Monaten des Zusammenle­bens und vielen gemeinsame­n Forschungs­flügen, bei denen die erhofften Messdaten gesammelt wurden, kam es bei einem Filmdreh mit einem Hubschraub­er zu einer unglücklic­hen Begegnung. Vier Gänse verabschie­deten sich aufgeschre­ckt in die Wildnis und kehrten auch nicht zurück. Calimero und Nils, die beiden Verblieben­en – Nemo war zwischenze­itlich gestorben – brachte Quetting in einen Wildpark. Aber egal, wo seine Gänsekinde­r auch leben, für sie bleibt er zeitlebens ihr Papa. Michael Quetting: „Plötzlich Gänsevater: Sieben Graugänse und die Entdeckung einer fasziniere­nden Welt“, Ludwig, 19,99 Euro

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FOTO: TOBIAS GERBER Die Liebesbeze­ugungen der Gänse konnten durchaus schmerzhaf­t sein. Für Michael Quetting war es jedenfalls ein großes Abenteuer.
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Am Anfang musste bei jeder Gelegenhei­t mit Papa gekuschelt werden.
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FOTOS: QUETTING/COLOURFIEL­S TELL-A-VISION Alleine ließ die Kükenschar ihren Papa nie.
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