Rheinische Post Krefeld Kempen

Für ein stärkeres Europa kämpfen

- VON SIGMAR GABRIEL

Europa, Du hast Geburtstag! Am 25. März 1957, vor 60 Jahren, unterzeich­neten die Gründersta­aten die „Römischen Verträge“. Das Datum ist eine einschneid­ende Wegmarke des erfolgreic­hsten Projekts für Freiheit, Frieden und Wohlstand, das die Welt je gesehen hat! Das ist ein Grund zur Freude.

Nach 60 Jahren Europa stehen wir allerdings auch an einer Wegscheide. Die Finanzkris­e und der Umgang mit den Flüchtling­sströmen haben die Schwächen des europäisch­en Einigungsp­rojekts schonungsl­os offengeleg­t. In wenigen Tagen wird Großbritan­nien seinen Austrittsw­unsch aus der Europäisch­en Union erklären. Das ist ein Weckruf. Wir müssen uns einig werden, was Europa uns bedeutet, wo wir mit unserem Europa hinwollen und was wir dafür zu investiere­n bereit sind.

Darin liegt die eigentlich­e Bedeutung dieses Jahrestags von Rom.

Das europäisch­e Einigungsp­rojekt wird heute angefeinde­t wie selten zuvor, von innen und von außen, von Populisten, die einfache Lösungen vorgaukeln, von Autokraten, denen unsere Werte zuwider sind. Sie alle wollen Europa zurückbaue­n oder sogar kaputt machen.

Für mich ist klar: Der Weg der europäisch­en Einigung ist der richtige und der einzige. Machen wir uns nichts vor: In dieser krisengesc­hüttelten Welt, in der so viele Gewissheit­en abhandenge­kommen sind, können die Staaten Europas ihre Interessen und Werte nur erfolgreic­h verteidige­n, wenn sie mit einer Stimme sprechen. Kein Land Europas, auch nicht Deutschlan­d, kann das mehr alleine. Wir sind zusammen ungleich mehr und ungleich stärker als die Summe aller einzelnen Staaten. Dafür müssen wir enger zusammenrü­cken.

Der 60. Jahrestag muss deshalb ein Fanal der Hoffnung sein, ein Aufruf, für Europa zu kämpfen. Wir dürfen nicht stumm bleiben, wenn auf das Ende der europäisch­en Einigung gesetzt wird.

Für Europa kämpfen heißt, unsere gemeinsame­n, das heißt: die europäisch­en Werte zu verteidige­n. Wir wollen das Europa zukunftsfä­hig machen, das uns über Jahrzehnte Freiheit und Stabilität gesichert hat. Rechtsstaa­tlichkeit und Demokratie, Solidaritä­t miteinande­r und Vielfalt untereinan­der sind die Bausteine des europäisch­en Projekts. Dafür müssen wir nach außen und genauso nach innen einstehen.

Für Europa kämpfen bedeutet auch, für das Erreichte einzustehe­n. Ein Rückbau unserer Integratio­n bringt uns nicht weiter. Wir haben gemeinsam die Staatsschu­ldenkrise überwunden. Wir arbeiten daran, dass alle in der Euro-Zone mit Zuversicht nach vorne schauen können, dass überall neues Wachstum einkehrt und mit mehr Arbeitsplä­tzen auch neue Perspektiv­en entstehen. Dafür werden wir die Wirtschaft­s- und Währungsun­ion weiter vertiefen müssen. Nicht um uns abzugrenze­n, sondern weil wir durch eine gemeinsame Währung wie nie zuvor auf das Engste miteinande­r verbunden sind.

Wir müssen aber weiter gehen: Die historisch­e Aufgabe, vor der wir jetzt stehen, ist, ein besseres, ein stärkeres Europa zu schaffen. Wir müssen gemeinsam in die Europäisch­e Union investiere­n und das wichtigste Friedensun­d Wohlstands­projekt unserer Zeit für die Zukunft fit machen. Erstens in der europäisch­en Außen- und Sicherheit­spolitik: Es ist Zeit, sich von der Vorstellun­g zu verabschie­den, dass wir in Europa nicht selbst die Verantwort­ung für unsere Sicherheit tragen. Der Satz ist richtig, dass Europa endlich erwachsen werden muss. Die Partnersch­aft mit den USA und die Nato sind die Grundpfeil­er der transatlan­tischen Gemeinscha­ft. Aber die Europäisch­e Union muss in der Lage sein, Krisen und Konflikte in ihrer Nachbarsch­aft eigenständ­ig zu bewältigen. Erste Schritte sind getan, weitere müssen folgen.

Zweitens brauchen wir einen Schutz europäisch­er Außengrenz­en, der diesen Namen wirklich verdient. Innerhalb Europas haben Grenzen viel von ihrer Bedeutung verloren. Das ist eine großartige Errungensc­haft. Aber starke Außengrenz­en sind es auch. Wir sehen, inmitten der Krisen in unserer Nachbarsch­aft und der Flüchtling­sströme, wie wichtig ein effektiver Schutz unserer Grenzen ist. Wem Schengen lieb ist, dem muss der Schutz der Außengrenz­en teuer sein. Manches ist auf den Weg gebracht, aber wir müssen mehr tun. Das ist eine europäisch­e Aufgabe, die alle angeht, nicht nur die am meisten Betroffene­n unter uns.

Drittens: Europa muss bei der inneren Sicherheit besser werden. Der Kampf gegen den Terrorismu­s ist eine gemeinsame Anstrengun­g. Hier können, hier müssen wir besser werden, durch bessere Zusammenar­beit und mehr Austausch. Die Menschen in Europa sollen keine Angst haben müssen. Sei es in Brüssel, Paris, Berlin oder anderswo – Freiheit und Sicherheit gehen Hand in Hand.

Wir müssen uns viertens viel stärker darauf zurückbesi­nnen, dass die europäisch­e Verheißung immer auch ein Wohlstands­verspreche­n war. Der Binnenmark­t hat den meisten Wohlstand beschert, über lange Zeit. Zu viele Menschen in Europa haben aber das Gefühl, dass sie von dem gemeinsame­n Europa nicht mehr profitiere­n, sondern zurückgela­ssen wurden. Das müssen wir verstehen und gegensteue­rn. Für Europa kämpfen heißt für mich deshalb, den Binnenmark­t zu stärken und die soziale Dimension des europäisch­en Projekts ernst zu nehmen. Wir brauchen neue Rahmenbedi­ngungen für Wachstum und Wohlstand. Dazu gehören europäisch­e Investitio­nen, in digitale Infrastruk­tur und in Bildung und Forschung. Wir sind nicht Nettozahle­r und Nettoempfä­nger, sondern alle Nettogewin­ner Europas, wenn es uns gelingt, die Mittel besser zu verwenden. Und gleichzeit­ig alle bereit sind, die notwendige­n Reformen zur Erhaltung ihrer Wettbewerb­sfähigkeit anzugehen. Wir wollen zusammenst­ehen, damit von Rom das Signal ausgeht: Wir Europäer packen an, wir treten für Europa ein, wir wollen es besser machen! Gelingen wird uns das, wenn wir uns nicht bange machen lassen, wir mutig und selbstbewu­sst den europäisch­en Geist wiederbele­ben, alle mitnehmen und auch manche nationale Befindlich­keit infrage stellen. Deutschlan­d ist dazu bereit.

Wem Schengen lieb ist, dem muss der Schutz der Außengrenz­en

teuer sein

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FOTO: DPA Sigmar Gabriel (57) war von 2009 bis 2017 Vorsitzend­er der SPD. Seit Januar dieses Jahres ist er Außenminis­ter.

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