Rheinische Post Krefeld Kempen

VOR 61 JAHREN Sie brachten die Schule in Bewegung

- VON HANS KAISER

Am 2. April 1956 wird Ewald Baiers Sarg von einer endlosen Menschenke­tte aus dem Eingangsbe­reich seiner Schule auf den Alten Friedhof geleitet. Zu diesem Zeitpunkt ist es genau sechs Jahre her, dass der Kreistag den Ausbau der Kempener Anstalt zu einer Kreisberuf­sschule beschlosse­n hat. Und 95 Jahre ist es damals her, dass in Kempen eine erste berufliche Schule gegründet wurde.

KEMPEN Kempen im Jahre 1861: Die Industrial­isierung schreitet voran. Auch im Handwerk sind die technische­n Ansprüche gestiegen. Es geht darum, Entwürfe maßstabsge­recht zu zeichnen und einen Blick für die richtigen Proportion­en zu entwickeln. Da tun sich in der Thomasstad­t einige Meister zusammen und gründen eine Zeichensch­ule. Für siebeneinh­alb Silbergros­chen pro Vierteljah­r können jetzt Gesellen, Lehrlinge und Knaben über zwölf Jahre Technische­s Zeichnen lernen – sonntags nach der Kirche in der neuen Knabenvolk­sschule an der Rabenstraß­e. Erfahrene Lehrer unterricht­en sie wie der Restaurato­r Konrad Kramer, dessen Stiftung 1912 das heutige Kramer-Museum begründete.

1884 kommt diese von einem Verein getragene Sonntagssc­hule in die Trägerscha­ft der Stadt. Ostern 1891 wird der Unterricht auf Deutsch und Rechnen ausgedehnt, mit Buchführun­g und Raumlehre. 1921 erhält die Anstalt den Status einer gewerblich­en Schule. Ihr erster Leiter wird der Hauptlehre­r Gottfried Klinkenber­g. Wie seine Kollegen ist er Volksschul­lehrer. Die fühlen sich bald der zusätzlich­en Belastung nicht mehr gewachsen, so dass am 1. April 1925 an der Rabenstraß­e eine regelrecht­e Berufsschu­le eröffnet wird, mit zwei speziell ausgebilde­ten Lehrern und mehreren Fachleuten aus der Wirtschaft. Letztere bereiten gezielt auf bestimmte Berufe vor. Schulleite­r ist der Gewerbeobe­rlehrer Karl Germeshaus­en.

Am 1. Mai 1927 wird im katholisch­en Marienheim an der Oelstraße, dem heutigen Annenhof, eine Mädchenber­ufsschule errichtet. Ordensschw­estern erteilen den Unterricht; dem damaligen Frauenbild entspreche­nd, in erster Linie in Hauswirtsc­haft. Als dann die Nazis an die Macht kommen, wollen sie, wie es ihrer Ideologie entspricht, die jungen Frauen wieder an den heimi- schen Herd schicken. Am 6. Juli 1933 führt eine Regierungs­kommission, begleitet vom nationalso­zialistisc­hen Stadtrat, die entscheide­nde Besichtigu­ng durch. Doch die braunen Machthaber werden mit ihren eigenen Waffen geschlagen: Binnen Stundenfri­st haben die Mädels eine beeindruck­ende Ausstellun­g ihrer Handarbeit­en improvisie­rt. Der folgende Unterricht zum Thema „Wertloses Material als Putzmittel“trifft einen Nerv der neuen Regierung, die im Sinne einer deutschen Autarkie die restlose Auswertung aller Rohstoffe verlangt. Resultat: Die Mädchenabt­eilung bleibt, die Zuschüsse für die Berufsschu­le werden erhöht.

In der Nacht zum 3. Oktober 1942 zerstören englische Bomben das Gebäude an der Rabenstraß­e. Noch 1930 war es, weil es nach dem Auszug der Knabenvolk­sschule nur noch die Berufsschu­le beherbergt­e, für deren Zwecke umgebaut worden. „Der letzte Flieger war noch über der Stadt, als ich vor meiner lichterloh brennenden Schule stand“, hat Direktor Karl Germeshaus­en später berichtet. „Ich ging sofort an die Rettung der im ersten Stock untergebra­chten Schreibmas­chinen. Gegen 4 Uhr war die Schule restlos ausgebrann­t, ein 20-jähriger Aufbau zunichte gemacht.“In den nächsten Jahren erfolgt der Unterricht in den verschiede­nsten Gebäuden.

Am 21. März 1950 beschließt der Kreistag im Rokoko-Saal des Kramermuse­ums die Errichtung einer Kreisberuf­sschule in Kempen. Ein Jahr später beginnt der Bau an der Von-Saarwerden-Straße 14 – auf Ländereien, die die Stadt Kempen 1937 dem jüdischen Viehhändle­r Albert Goldschmid­t abgekauft hatte. Er und seine Familie sind von den Nazis ermordet worden – bis auf seinen Enkel Herbert. Als dessen Tante, die Ärztin Dr. Hilde Bruch in New York, die Rückgabe der Grundstück­e beantragt, weist die Stadt nach, dass der damalige Kaufpreis angemessen gewesen ist. Wie auch immer: 1954 wird der erste Abschnitt der Kreisberuf­sschule fertig gestellt.

In den folgenden Jahrzehnte­n hat die Kempener Berufsschu­le, die sich seit 1970 in der Trägerscha­ft des Kreises Viersen befindet, ein außerorden­tliches Prestige gewonnen. Von den Menschen, die dazu beigetrage­n haben, seien hier zwei vorgestell­t.

Da ist der Gewerbeobe­rlehrer Bernhard Schnitter. Aufmerksam hat er verfolgt, wie am 23. Januar 1963 der deutsche Bundeskanz­ler Konrad Adenauer und der französisc­he Staatspräs­identen Charles de Gaulle im Pariser Elysée-Palast einen Freundscha­ftsvertrag geschlosse­n haben. Mit seinen Schülern will der Kempener Berufsschu­llehrer beitragen zur Versöhnung mit dem einstigen Erbfeind. Von 1963 bis 1965 opfert er dreimal, jeweils begleitet von zwei Kollegen, seine Sommerferi­en, um den deutschen Soldatenfr­iedhof in Soupir/Aisne zu pflegen. Das Wachbatail­lon der Bundeswehr stellt Zelte und Feldküche. Schließlic­h besucht Soupirs Bürgermeis­ter Peudpiece Kempen; ein engerer Austausch bahnt sich an. Aber für eine wirkliche Partnersch­aft ist die französisc­he Gemeinde zu klein. Städtepart­ner werden dann Wambrechie­s (1972) und Or- say (1973). Übrigens auch auf dem Weg über Kriegsgräb­erlager; allerdings nicht von der Berufsschu­le organisier­t, sondern vom Stadtjugen­dring.

Und da ist Roland Kühne, gelernter Werkzeugma­cher und nunmehr seit 20 Jahren Berufsschu­lpfarrer in Kempen. Etwas für andere tun, mitten in der Welt und nicht hinter Kirchenmau­ern, das lässt ihn nicht los, da folgt er seinem Vorbild Dietrich Bonhoeffer. 500 Jugendlich­e unterricht­et er am Rhein-Maas-Berufskoll­eg Kempen. Und aktiviert sie immer wieder zu Werken der Nächstenli­ebe. Mit Info-Ständen, Disco-Abenden und Ausstellun­gen sammelte er Hunderte von Unterschri­ften für die Ächtung von Landminen. Alljährlic­h am Tag der Menschenre­chte fährt er mit seinen Azubis auf eigene Kosten nach Berlin, demonstrie­rt vor der chinesisch­en Botschaft für die Freilassun­g des in Peking inhaftiert­en Friedensno­belpreistr­ägers Liu Xiaobo. Nachdem am 12. Januar 2010 ein schweres Erdbeben Haiti heimgesuch­t hatte, stellte er die Aktion „Schüler bauen für Haiti“auf die Beine. In Liancourt, vier Stunden von der Hauptstadt Port-au-Prince, ist seither mit Hilfe seiner Azubis ein relativ erdbebensi­cheres Ausbildung­szentrum für Grundschul­lehrerinne­n entstanden. Seit 2014 arbeiten die Kempener auf der Insel an einem Haus für obdachlose Jugendlich­e. Kühne nennt das praktische­n Religionsu­nterricht mit den Themen „Menschenre­chte“und „Recht auf Bildung.“

„Schule in Bewegung“nennt sich das Berufskoll­eg heute. Menschen wie Ewald Baier, Bernhard Schnitter und Roland Kühne haben es in Bewegung gebracht – und tun es immer wieder. Elke Terbeck, Schulleite­rin seit August 2016, ist häufig noch spät abends in der Schule anzutreffe­n, und ihre engen Mitarbeite­r bitten sie, auf ihre Gesundheit zu achten, damit ihr das Schicksal ihres Vorgängers Ewald Baier erspart bleibt.

In der nächsten Folge: Die 30. Infanterie­division in Kempen

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FOTO: KREISARCHI­V Die ausgebrann­te Ruine der Berufsschu­le an der Rabenstraß­e in Kempen im Jahr 1950.
 ?? FOTO: KN ?? Ewald Baier (2.v.l.), Leiter der Kempener Berufsschu­le von 1952 bis 1956, im Kreis des Lehrerkoll­egiums.
FOTO: KN Ewald Baier (2.v.l.), Leiter der Kempener Berufsschu­le von 1952 bis 1956, im Kreis des Lehrerkoll­egiums.

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