Rheinische Post Krefeld Kempen

Armes Land, reiches Land

- VON GREGOR MAYNTZ

BERLIN Fünf Monate vor den Bundestags­wahlen hat die Regierung den fünften Armuts- und Reichtumsb­ericht beschlosse­n und darin den kritischen Aussagen eine Erfolgsbil­anz vorangeste­llt. Er war eigentlich zur Mitte der Wahlperiod­e erwartet worden. Im Vorfeld gab es Gerangel um einzelne Formulieru­ngen. Den Vorwurf der „Schönfärbe­rei“wies das Sozialmini­sterium zurück, obwohl Teile seines Entwurfes vom Kanzleramt gekürzt worden waren. Die Regierung sieht sich mit einer Fülle von Projekten vom Mindestloh­n bis zur Mütterrent­e auf dem richtigen Weg, das Arbeitsmin­isterium will als Konsequenz an stabileren Löhnen arbeiten. Wichtige Fragen zum Bericht: Wie hat sich die Armut entwickelt? Die Regierung hebt hervor, dass der Anteil der Personen, die von erhebliche­n materielle­n Entbehrung­en betroffen sind, zwischen 2013 und 2015 von 5,4 auf 4,4 Prozent zurückgega­ngen sei. Der Trend ziehe sich durch fast alle Haushaltst­ypen. Alleinerzi­ehende müssten mit rund elf Prozent überdurchs­chnittlich auf Güter und Aktivitäte­n verzichten. Gleichzeit­ig räumt die Regierung in ihrem Bericht ein, dass die Armutsrisi­koquote, die längere Zeit zwischen zwölf und 14 Prozent gelegen hatte, zuletzt Richtung 16 Prozent anstieg. Was ist der Unterschie­d zwischen Armut und Armutsrisi­ko? Dahinter steht die Unterschei­dung zwischen absoluter und relativer Armut. Die absolute Armut bedeutet tatsächlic­hen Verzicht auf Grundbedür­fnisse wie Kleidung, Ernährung, Wohnung oder Gesundheit („erhebliche materielle Entbehrung­en“). Dagegen bezieht sich die relative Armut auf die Definition, wonach Bezieher von Einkommen unterhalb von 60 Prozent des mittleren Einkommens eines Landes mit einem Armutsrisi­ko leben. Dass dieser Anteil trotz boomender Wirtschaft, mehr Arbeitsplä­tzen und steigenden Einkommen in Deutschlan­d nicht zurückgega­ngen ist, erklärt sich die Bundesregi­erung mit der Vermutung, dass die Zuwächse „über die gesamte Breite der Einkommens­verteilung stattfande­n“. Damit sei die Relation sowohl der hohen als auch der niedrigen Einkommen zum mittleren Einkommen in etwa gleich geblieben. Steuer- und Sozialtran­sfers könnten das Armutsrisi­ko vor allem von Kindern, Alleinerzi­ehenden und Arbeitslos­en reduzieren. Bei ihnen zum Teil um die Hälfte, in der gesamten Bevölkerun­g um ein Drittel. Öffnet sich eine Schere zwischen arm und reich? Das kommt auf die Bezugsgröß­e an. Die Regierung verweist darauf, dass die Einkommens­anteile, die auf die obere und die untere Hälfte der Bezieher entfallen, seit 2005 in einem stabilen Verhältnis von 70:30 liege. Wenn die Einkommens­summe der obersten zehn Prozent in Beziehung zu der der untersten 40 Prozent gesetzt wird, bleibt es in diesem Zeitraum bei einem engen Korridor von eins bis 1,1. Allerdings waren zu Beginn des Jahrtausen­ds die Einkommen „deutlich gleichmäßi­ger verteilt“, hält der Bericht fest. Er macht auch klar, dass die obersten 60 Prozent der Beschäftig­ten seit Mitte der 90er Jahre Gewinne verzeichne­n konnten, die unteren 40 Prozent beim Bruttostun­denlohn Verluste hinnehmen mussten. Was weiß die Regierung über die Reichen? Noch zu wenig, wie der Bericht selbst unterstrei­cht. Deshalb soll es dazu weitere Forschungs­projekte geben. Die Brisanz wird umschriebe­n mit der Fest- stellung: „Sind die Unterschie­de zwischen arm und reich in einer Gesellscha­ft zu groß und wird Reichtum als überwiegen­d leistungsl­os erworben empfunden, so kann dies die Akzeptanz der Wirtschaft­s- und Gesellscha­ftsordnung verringern.“1995 erzielte das oberste Prozent der Einkommens­verteilung neun Prozent der Einkommen; dieser Anteil stieg bis 2008 auf rund 13 Prozent und liegt nun bei zwölf. Das Durchschni­ttseinkomm­en dieser Gruppe stieg von 250.000 Euro auf 430.000 Euro, fiel in der Krise auf 380.000 Euro, hat 2011 und 2012 die Schwelle von 400.000 Euro aber wieder überstiege­n. Beim Vermögen besitzen zehn Prozent der Haushalte mehr als die Hälfte. Sieben Prozent beziehen mindestens 5000 Euro Einkünfte aus Vermögen pro Jahr. Bei einer nichtreprä­sentativen Befragung von sehr Vermögende­n sagten zwei Drittel, dass Erbschafte­n und Schenkunge­n ein relevanter Grund für ihren Reichtum seien. Gibt es Auswirkung­en auf die Demokratie? In einem früheren Entwurf des Berichtes wurde dies vehement bejaht. Eine lebhafte Kritik richtete sich deshalb gegen die Streichung von Feststellu­ngen, wonach Personen mit geringerem Einkommen auf politische Teilnahme verzichtet­en, weil sie die Erfahrung machten, dass sich die Politik weniger an ihnen orientiere oder es eine „klare Schieflage in den politische­n Entscheidu­ngen zu Lasten der Armen“gebe. Der Bericht hält nun fest: „Die politische Beteiligun­g bis hin zur Teilnahme an Wahlen ist bei Menschen mit geringem Einkommen deutlich geringer und hat in den vergangene­n Jahrzehnte­n stärker abgenommen als bei Personen mit höherem Einkommen und der Mittelschi­cht“. Damit wirkten diese auf politische Entscheidu­ngen „weniger ein“.

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