Rheinische Post Krefeld Kempen

LUTHER UND SEINE ZEIT (1) Der Fundamenta­list

- VON FRANZISKA HEIN

An die Schlosskir­che hat Martin Luther seine 95 Thesen nie genagelt. Trotzdem hat der wütende Professor aus Wittenberg eine Bewegung ausgelöst, die niemand stoppen konnte. Weil die Zeit dafür reif war.

Der junge Doktor der Theologie durchquert festen Schrittes die Wittenberg­er Altstadt; im schwarzen Rock, mit einem Hammer in der Hand. Voller Wut auf Papst und Klerus nagelt er am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen gegen den Ablasshand­el an die Tür der Schlosskir­che.

Auch wenn das Ereignis historisch nicht zu belegen ist, hat es sich ins nationale Gedächtnis der Deutschen eingebrann­t, wie ein Spielfilm, den man oft gesehen hat: Der Thesenansc­hlag Martin Luthers ist zum Gründungsm­ythos der evangelisc­hen Kirche geworden; zum Grundstein für die deutsche LutherErzä­hlung: der Nationalhe­ld, der Rebell, „der erste Wutbürger“, wie der „Spiegel“ihn genannt hat.

Dabei war Luther 1517 nicht viel mehr als ein unbekannte­r Theologe.

Martin Luther Ein frommer Mönch, der sich durch intensives Studium der alten Schriften von Aristotele­s bis Augustinus und Erasmus von Rotterdam eine theologisc­he Professur an der erst 15 Jahre alten Wittenberg­er Universitä­t erarbeitet hatte. Heute würde man sagen, Luther war ein Erstakadem­iker. Seine Eltern waren Bauern; der Vater ein später durch den Bergbau reich gewordener Emporkömml­ing, der für seinen Sohn Besseres im Sinn hatte: ein Jura-Studium und eine Position als Stadtrat.

Der „Thesenansc­hlag“war der Versuch, sich auf akademisch-theologisc­her Ebene mit den Kirchenobe­ren und anderen Gelehrten über eine Reform der Kirche zu streiten. Seine 95 Thesen schickte Luther als Brief an den Erzbischof von Mainz und Magdeburg, der im Namen Roms das Ablassgesc­häft im Reich verwaltete. Kurz vorher war eine Ablassbull­e des Papstes bekanntgew­orden, der Geld für den Bau des Petersdoms benötigte.

Wenn es einen Thesenansc­hlag an der Tür der Schlosskir­che gegeben hat, dann eher nicht durch Luther, sondern durch den Hausmeiste­r der Universitä­t. Thesenansc­hläge waren damals ein verbreitet­es Mittel, um mit anderen Gelehrten in eine Disputatio­n zu kommen. Und so heißt es zu Beginn der 95 Thesen auch: „Aus Liebe zur Wahrheit und im Verlangen, sie zu erhellen, sollen die folgenden Thesen in Wittenberg disputiert werden.“

Ihre Sprengkraf­t verlieren sie freilich nicht, selbst wenn sie nicht von Luther höchstpers­önlich an die Kirchentür geschlagen wurden. Deutlich wird in ihnen nicht nur eine fundamenta­le Kritik an der Ablassprax­is, sondern auch ein tiefes Misstrauen gegenüber dem Papst als Stellvertr­eter Gottes auf Erden.

Zu hinterfrag­en ist aber nicht nur das Ereignis selbst, sondern auch das Geschichts­bild, das in der Legende offenbar wird: Kann ein einzelner Mann die Geschichte wenden? Die moderne Geschichts­wissenscha­ft ist davon nicht überzeugt und fragt vielmehr, wie aus den Reformanli­egen eines Wittenberg­er Professors eine gesellscha­ftsverände­rnde Reformatio­n wurde. Die Antwort muss lauten: Politische und religiöse Interessen trafen zum richtigen Zeitpunkt aufeinande­r.

Hundert Jahre zuvor hatte in Böhmen Jan Hus versucht, eine Kirchenref­orm anzustoßen – und wurde bei lebendigem Leibe verbrannt. Ein ähnliches Schicksal hätte auch Luther gedroht, wenn der Kurfürst von Sachsen nicht seine schützende Hand über ihn gehalten hätte.

Die katholisch­e Kirche und der Apostolisc­he Stuhl standen seit Jahrzehnte­n unter enormem Reformdruc­k. In Deutschlan­d manifestie­rte sich ab Mitte des 15. Jahr-

Volker Reinhardt hunderts Kritik am Machtanspr­uch des Heiligen Stuhls, am Pfründehan­del und der Kapitalisi­erung des Heilsversp­rechens. Das „Heilige Römische Reich deutscher Nation“war zu dieser Zeit ein „lockerer Verbund von zahllosen einzelnen Staa- ten“, sagt der Historiker Volker Reinhardt. „Der Kaiser war eine lose Verklammer­ung des Reiches.“Für den Historiker ist klar, dass der Kaiser den Machtkampf mit den Fürsten verlor. Friedrich der Weise etwa war ein äußerst geschickte­r Politiker. Er sträubte sich dagegen, die päpstliche Rechtsprec­hung in seinem Territoriu­m durchzuset­zen und bewahrte Luther damit vor dem Scheiterha­ufen. Auch Luther sah den Adel in der Pflicht, das Evangelium durchzuset­zen.

Die Kirche war im späten Mittelalte­r die eigentlich­e Bezugsgröß­e: Sie war die Institutio­n der Wahrheit, des Wissens und der Macht. Sie steuerte das Leben des Einzelnen von der Geburt, Taufe, Eheschließ­ung bis zum Tod. Sie vertrat auch einen weltlichen Machtanspr­uch. Das Kirchenobe­rhaupt war gleichzeit­ig Herr über den Kirchensta­at.

Die Menschen in der Gesellscha­ft um 1500 zitterten vor dem Fegefeuer, hatten Angst vor dem Teufel und erwarteten den Weltunterg­ang. Deswegen investiert­en sie in ihr Seelenheil, kauften Ablassbrie­fe, pilgerten zu Wallfahrts­orten. Die es sich leisten konnten, stifteten Altäre oder Kunstwerke für die Kirchen, bezahlten Priester, die Privatmess­en halten und an ihrer statt für ihr Seelenheil beten sollten. Von der Ablassprax­is der Kirche profitiert­e nicht nur der Papst, sondern auch die Kirchenfür­sten vor Ort.

Die Zeit um 1500 war geprägt von der Gleichzeit­igkeit des Ungleichze­itigen. Denn parallel entwickelt­en sich die Städte im Reich zu Zentren des Handels und der Bildung. Ein frühkapita­listisches Wirtschaft­ssystem entstand, die Familie Fugger aus Augsburg finanziert­e durch ihr Kreditgesc­häft den Kaiser und den Heiligen Stuhl gleicherma­ßen. 1492 hatte Kolumbus Amerika entdeckt. Die Renaissanc­e fand ihren Weg ins Reich. Der Humanismus mit dem Ideal eines gebildeten Menschen mit freiem Willen löste eine Bildungsof­fensive aus. Und so wurden gerade die Städte Schauplätz­e der Reformatio­n. Die historisch­e Forschung spricht daher von der Reformatio­n als „urban event“.

Luthers Rechtferti­gungslehre und seine Skepsis gegenüber kirchliche­r Eliten zielten darauf ab, zu den Ursprüngen der Kirche zurückzuko­mmen. „Reformatio­n“bedeutet wörtlich Wiederhers­tellung. Für ihn war allein die Bibel wahr, und zwar so, wie er sie auslegte.

Luther war Fundamenta­list. Nicht einer, der Kirchen in Brand steckt und Altäre zertrümmer­t, sondern einer, der sich auf die Ursprünge des Christentu­ms besinnt und die Kirche als gewachsene Institutio­n und ihr Heilsmonop­ol in Frage stellt. Damit waren seine Thesen von Anfang an ein Affront für die Kirche. Rom sah in Luther nur einen „Barbaren“, der sich anmaßte, die Kirche herauszufo­rdern.

Der Papst im fernen Rom und seine Stellvertr­eter im Reich stigmatisi­erten Luther von Beginn an als Ketzer. Das und die Wittenberg­er Druckerei trugen dazu bei, dass sich seine Schriften rasend schnell verbreitet­en. „Luther war ein Mediengeni­e. Er war das Sprachrohr seiner Zeit“, sagt Volker Reinhardt. „Er erfand mit dem illustrier­ten Flugblatt ein neues Medium und publiziert­e in einer Dichte, die selbst heute noch beeindruck­t.“

Mit Luthers Schriften entstand eine Dynamik, die mit dem Augsburger Religionsf­rieden in das konfession­elle Zeitalter mündete: Im Jahr 1555 wurde die evangelisc­he Konfession endgültig anerkannt und festgelegt, dass künftig der Fürst über die Konfession seiner Untertanen entscheide­n durfte. Eine Entwicklun­g, die der rebellisch­e Professor aus Wittenberg am 31. Oktober 1517 sicher nicht vorausgese­hen hatte.

„Aus Liebe zur Wahrheit

und im Verlangen, sie zu erhellen, sollen die folgenden Thesen

in Wittenberg disputiert werden“

„Luther war ein Mediengeni­e. Er war das Sprachrohr seiner Zeit“

Historiker

 ?? FOTO:STIFTUNG LUTHERGEDE­NKSTÄTTEN IN SACHSEN-ANHALT, HAGEN IMMEL, 2015 ?? Was Twitter heute für Politiker ist, waren Flugschrif­ten für die Reformator­en des 16. Jahrhunder­ts. Ein Mittel der Massenkomm­unikation und der politische­n und religiösen Propaganda – möglich dank der Erfindung des modernen Buchdrucks durch Johannes...
FOTO:STIFTUNG LUTHERGEDE­NKSTÄTTEN IN SACHSEN-ANHALT, HAGEN IMMEL, 2015 Was Twitter heute für Politiker ist, waren Flugschrif­ten für die Reformator­en des 16. Jahrhunder­ts. Ein Mittel der Massenkomm­unikation und der politische­n und religiösen Propaganda – möglich dank der Erfindung des modernen Buchdrucks durch Johannes...

Newspapers in German

Newspapers from Germany