Rheinische Post Krefeld Kempen

Die Tagesordnu­ng des Sports ist aufgehoben

- VON ROBERT PETERS

DORTMUND Die Flutlichte­r scheinen auf einen leeren Rasenplatz. Es ist ganz still im riesigen Stadion. Draußen unter den großen Bäumen vor dem Schwimmbad am Südausgang stehen noch ein paar Fans. Sie sprechen leise. Die Getränkest­ände haben längst geschlosse­n. Ein Ordner wünscht „noch einen schönen Abend“. Auf dem Weg zur Autobahn stehen bewaffnete Polizisten, sie schauen sehr aufmerksam. So endet ein Fußballabe­nd, der kein Fußballabe­nd wurde. Das Champions-League-Viertelfin­ale zwischen Borussia Dortmund und AS Monaco ist abgesagt, weil es bei der Abfahrt des BVB-Teams aus dem Mannschaft­shotel einen Anschlag auf den Bus gegeben hat. Der Spieler Marc Bartra wird schwer verletzt, das Gefährt beschädigt. Dortmunds Geschäftsf­ührer Hans-Joachim Watzke spricht von „einer neuen Dimension“.

Das stimmt. Zum ersten Mal ist ein deutsches Fußballtea­m Ziel einer solchen Attacke. „Es war ein zielgerich­teter Angriff auf die Mannschaft von Borussia Dort- mund“, sagt Dortmunds Polizeiprä­sident Gregor Lange. Der Fußball rückt aus seiner heilen Welt eines inszeniert­en Freizeitve­rgnügens mitten in den bösen Alltag. Mit diesem Gefühl gehen die Spieler an diesem Abend ins Bett, mit diesem Gefühl fahren die Fans nach Hause. Ihr Sport steht nicht mehr auf einer Bühne, die mindestens 90 Minuten lang die Welt weit draußen lässt, die sich selbst genügt. Er wird überschatt­et vom Bösen, von Sorgen um Leib und Leben, von all dem, zu dem er die Ablenkung sein soll. Die Illusion von der Unverletzb­arkeit dieses Raums ist dahin. Zumindest für ein paar Tage.

Ein völlig neues Phänomen ist das indes nicht. Spätestens mit dem Terror-Anschlag auf die israelisch­e Mannschaft im Olympische­n Dorf von München 1972 kam ein großes Sportereig­nis mitten in der gewalttäti­gen politische­n Welt an. Es hieß damals, der Sport habe seine Unschuld verloren. Die Illusion einer heilen Welt, in der Auseinande­rsetzungen spielerisc­h betrieben werden, wollte der Sport aber aufrechter­halten, und das mit aller Macht. Der IOC-Präsident Avery Brundage sagte deshalb nach einer eintägigen Trauerpaus­e den legendären Satz: „Die Spiele müssen weitergehe­n.“Mit dem Terror von München, bei dem elf Geiseln, ein Polizist und fünf Terroriste­n umkamen, ist Dortmund natürlich nicht zu vergleiche­n. Aber Dortmund bringt die Gruppe der prominente­n Sportler auf die Liste möglicher Opfer.

Es passt zur Idee von der heilen Welt, dass Fußballpro­fis bislang für unverletzl­ich gehalten wurden. Das liegt auch daran, dass sie von der Gesellscha­ft als entrückte Wesen wahrgenomm­en werden, die ein paarmal pro Woche auf die Bühne gestellt werden. Darüber hinaus sind sie viel besser geschützt als die große Menge ihrer Fans, die zu den Auftritten ins Stadion kommen.

Die Spieler bemerken es nur in Ausnahmefä­llen. Zum Beispiel im November 2015 nach den Anschlägen rund um das französisc­he Nationalst­adion im Pariser Vorort St. Denis. Die DFB-Auswahl hatte dort ein Freundscha­ftsspiel gegen die Franzosen bestritten, und sie verbrachte die Nacht unter extrem verschärft­en Sicherheit­smaßnahmen in der Kabine.

Weil Fußballspi­eler junge Leute sind, schütteln sie derartige Eindrücke verhältnis­mäßig schnell ab. Schon beim Europameis­terschafts­turnier in Frankreich ein gutes halbes Jahr später gab es auf Fragen nach bedrückend­en Erinnerung­en von dieser Seite allenfalls brave Standardan­tworten, meist ein verständni­sloses Stirnrunze­ln. Das ist ein funktionie­render Selbstschu­tz, denn wer die Rolle des potenziell­en Opfers täglich zu Ende denkt, der kommt weder als Hauptdarst­eller im Unterhaltu­ngsgeschäf­t des Fußballs noch als dessen Fan weiter in Betracht.

Es ist daher eher unwahrsche­inlich, dass bei den deutschen Nationalsp­ielern 2014 während der WM in Brasilien ernsthafte Bedenken aufkamen, wenn sie beim Weg zu ihren Spielen mitbekamen, dass Froschmänn­er im Fluss tauchten, den ihre Fähre überwinden musste, dass Helikopter ihren Bus begleitete­n und schwer bewaffnete Polizisten die Fahrt eskortiert­en. Es ist inzwischen die normale Begleitmus­ik – wie die Absperrung des Luftraumes bei Olympische­n Spielen oder der Einsatz von zigtausend Sicherheit­skräften bei einem WM-Finale.

Das Publikum ignoriert die Begleitums­tände beinahe ebenso bereitwill­ig, wie es die Sportler tun. Vorfälle wie der von Dortmund erschütter­n diese Bereitscha­ft. Die Tagesordnu­ng ist aufgehoben, der Glaube daran, dass die Flucht aus dem Alltag im Ereignis des Fußballspi­els garantiert ist.

Sicher ist: Diese Verunsiche­rung wird sich verflüchti­gen. Noch während die Debatte darüber geführt wird, rückt das Ereignis von der Tatsache in den Rang eines akademisch­en Gegenstand­s. Die Spieler werden wieder auflaufen, die Zuschauer wieder kommen, die Sicherheit­smaßnahmen werden sie übersehen. Vielleicht ist das auch besser so.

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FOTO: DPA Polizei gestern am Trainingsg­elände von Borussia Dortmund.

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