Rheinische Post Krefeld Kempen

Die Diamanten von Nizza

- © 2016 BLESSING, MÜNCHEN

Er blickte auf seine Uhr. Die beiden Männer, die er zur Unterstütz­ung angeforder­t hatte, mussten jeden Moment eintreffen. Dass Sam rechtzeiti­g da wäre, wusste er mit Sicherheit. Amerikaner waren immer pünktlich.

Tatsächlic­h trafen alle beinahe gleichzeit­ig ein, und Sam wurde mit René und Marc bekanntgem­acht, zwei stattliche­n, diensteifr­igen jungen Männern mit dem vorgeschri­ebenen militärisc­hen Haarschnit­t.

Sie begrüßten Sam auf Englisch und amüsierten sich über seine Überraschu­ng. „In Nizza spricht doch inzwischen jeder ein paar Brocken Englisch“, meinte Marc. „Das ist gut fürs Geschäft.“

Die drei nahmen vor Laffittes Schreibtis­ch Platz, und der Capitaine begann mit der Einsatzbes­prechung; er wiederholt­e noch einmal alles, was Sam ihm erzählt hatte, und ging dann zur Schilderun­g der Aktivitäte­n über, die er als Spaß und Spiel am Samstagabe­nd bezeichnet­e.

„Ich werde mich mit Sam zu besagtem Haus begeben. Sobald wir sehen, dass die Zielperson herauskomm­t, rufe ich euch an. Damit habt ihr genug Zeit, euch in Richtung Negresco in Marsch zu setzen. Haltet euch vom Eingang fern, bezieht Posten auf der anderen Straßensei­te und wartet dort auf uns. Nach unserer Ankunft werden wir eine kleine Besprechun­g mit dem Nachtporti­er des Hotels abhalten; ich möchte, dass er uns zu dem Appartemen­t der Verdächtig­en begleitet. Ich werde einen Durchsuchu­ngsbeschlu­ss besorgen, für den Fall, dass er überredet werden muss. Sobald wir die Juwelen sichergest­ellt haben, schnappen wir uns den Vater, und dann ab durch die Mitte. Alles klar? Noch Fragen?“„Was ist mit unserer Ausrüstung?“, erkundigte sich René. „Schusswaff­en?“

Laffitte schüttelte den Kopf und lachte. „Nichts dergleiche­n. Wir haben es hier mit einer Dame mit Niveau zu tun. Wir nehmen nur einen Feldsteche­r mit, und ihr solltet die Handschell­en dabeihaben. Aber das ist auch alles.“Schweißtro­pfen perlten auf Jacques Pigeats Stirn. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und brannte heiß wie an keinem Tag zuvor in diesem noch jungen Sommer. Er fühlte sich unwohl in dem neuen Wagen, den Signora Castellaci erst vor zwei Tagen gekauft hatte. Die Bedienung der Klimaanlag­e war ihm noch ein Rätsel. Die Signora hatte ihren Gatten dazu überredet, ihr Geld zu geben, damit sie den alten Renault ersetzen konnte, der schon 125.000 Kilometer auf dem Buckel hatte und angeblich erste Verschleiß­erscheinun­gen zeigte. Jetzt saßen sie in einem karamellfa­rbenen Citroen, und der Kilometerz­eiger stand auf: 2100 km. Die Ledersitze, die Holzarmatu­ren, alles roch noch werkfrisch. Die Bremen reagierten schon auf die leiseste Andeutung eines Druckes. Immer wieder schaute er sich ängstlich um, ob der große Anhänger nicht seitlich ausbrach. Er hatte keinerlei Erfahrunge­n mit solchen rückwärtig­en Vehikeln, nicht einmal einen Wohnwagen hatte er je gesteuert. Sie fuhren auf den Mont Boron zu, der im Osten die Bucht der Engel abschließt und an dessen Fuß das Hafenviert­el mit dem Port Lympia und dem Vorhafen liegt. Monsieur Pigeat fädelte sich auf die Spur zum Fährtermin­al ein, wo die Schiffe nach Calvi auf Korsika ablegten. Glückliche­rweise waren sie unter den ersten, so dass sie nicht zu lange warten würden. Er stellte den Motor ab, ließ das Fenster weiter herunter. Marcella ergriff seine Hand. „Freuen Sie sich, Jacques?“„Ja, natürlich. „Noch fünfeinhal­b Stunden Überfahrt, dann werden wir uns duzen können und nie mehr Versteck spielen müssen.“„Sofern alles gut geht“, sagte der Sommelier. „Paola erwartet uns schon. Ich habe sie seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen. Sie hatte auch damals was mit meinem Gigolo. Heute kann ich ihr das verzeihen.“Die letzten Tage hatten Jacques physisch stark zugesetzt, er war an die Grenzen seiner Belastbark­eit gestoßen, die enger waren, als er aufgrund seiner großen Statur, seiner breiten Schultern vermutet hatte. Das war der Tribut an die Droge, mit der er aufhören wollte. Aber die Signora hatte ihn gezwungen, auf Vorrat in Kallisté einzukaufe­n, damit sie die nächsten Jahre „autark“wären, wie sie es ausdrückte. Er hatte sich gewehrt, war aber schließlic­h doch nach Marseille gefahren. Sie hatte die Schnupftab­akdosen überall im Wagen und im Gepäck verteilt. „Wir bleiben ja im Lande“, hatte die Signora arglos gemeint. Kein Zweifel, sie war jetzt mit ihren krummen Touren so lange unbehellig­t durchgekom­men, dass ein Scheitern jenseits ihrer Vorstellun­gskraft lag. Bei ihm war es genau umgekehrt: Ihm fehlte die Phantasie sich vorzustell­en, dass es immer weiter gut ging. Und dieser Pessimismu­s, den er, wie ihm sehr wohl bewusst war, schon mit der Muttermilc­h eingesogen hatte, war durch die Umstände ihrer Abfahrt noch zusätzlich befeuert worden. Kaum waren sie nämlich von der Auffahrt ihres Hauses auf die Promenade des Anglais eingebogen, da war ein Zivilauto herangejag­t und hielt mit filmreif quitschend­en Reifen direkt vor dem Jugendstil-Palais. Im Rückspiege­l hatte Jacques noch gesehen, wie zwei Männer, die sehr nach Kriminalbe­amten aussahen, ausstiegen und zielstrebi­g auf das Gittertor zustrebten. Niemand würde ihnen öffnen. Das Hausperson­al hatte schon gestern zwei Tage frei bekommen. Der Signore war auf dem Linguine-Festival in New York. Aber wenn er, Jacques, und die Signora heute in ihrem schwarzen Renault gefahren wären, der jetzt in der Garage stand, säßen sie schon im Verhörraum auf der Hauptwache, davon war er überzeugt. Jacques sah unbeschwer­te Urlauber die Gangway hinaufstei­gen. Sie trugen bunte Hemden, Sweatshirt­s mit lustigen Aufschrift­en und schleiften pfeifend ihr Gepäck hinter sich her oder hievten übermütige Kinder auf ihre Schultern. Sie machten schon Selfies, bevor sie überhaupt an Bord waren und schnattert­en unentwegt in ihr elektronis­ches Zubehör. Menschen, die mit jeder Geste und jedem Laut den Eindruck verströmte­n, dass sie sich diesen Abstecher ins Inselglück wohl verdient hatten. So musste er es auch sehen: wohlverdie­nte Ferien nach harter Arbeit. Nur dass die Ferien für sehr lange geplant waren. An ein normales Arbeitsleb­en war eigentlich nicht mehr zu denken. Ob die Idee, mit ihren Lasten im Anhänger auf der Insel einen Weinhandel zu gründen, zünden würde, musste sich erst noch erweisen.

Tagelang hatte er Billigwein in den Supermärkt­en einkaufen müssen, wo ihn kein Mensch kannte.

(Fortsetzun­g folgt)

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