Rheinische Post Krefeld Kempen
Die Diamanten von Nizza
Er blickte auf seine Uhr. Die beiden Männer, die er zur Unterstützung angefordert hatte, mussten jeden Moment eintreffen. Dass Sam rechtzeitig da wäre, wusste er mit Sicherheit. Amerikaner waren immer pünktlich.
Tatsächlich trafen alle beinahe gleichzeitig ein, und Sam wurde mit René und Marc bekanntgemacht, zwei stattlichen, diensteifrigen jungen Männern mit dem vorgeschriebenen militärischen Haarschnitt.
Sie begrüßten Sam auf Englisch und amüsierten sich über seine Überraschung. „In Nizza spricht doch inzwischen jeder ein paar Brocken Englisch“, meinte Marc. „Das ist gut fürs Geschäft.“
Die drei nahmen vor Laffittes Schreibtisch Platz, und der Capitaine begann mit der Einsatzbesprechung; er wiederholte noch einmal alles, was Sam ihm erzählt hatte, und ging dann zur Schilderung der Aktivitäten über, die er als Spaß und Spiel am Samstagabend bezeichnete.
„Ich werde mich mit Sam zu besagtem Haus begeben. Sobald wir sehen, dass die Zielperson herauskommt, rufe ich euch an. Damit habt ihr genug Zeit, euch in Richtung Negresco in Marsch zu setzen. Haltet euch vom Eingang fern, bezieht Posten auf der anderen Straßenseite und wartet dort auf uns. Nach unserer Ankunft werden wir eine kleine Besprechung mit dem Nachtportier des Hotels abhalten; ich möchte, dass er uns zu dem Appartement der Verdächtigen begleitet. Ich werde einen Durchsuchungsbeschluss besorgen, für den Fall, dass er überredet werden muss. Sobald wir die Juwelen sichergestellt haben, schnappen wir uns den Vater, und dann ab durch die Mitte. Alles klar? Noch Fragen?“„Was ist mit unserer Ausrüstung?“, erkundigte sich René. „Schusswaffen?“
Laffitte schüttelte den Kopf und lachte. „Nichts dergleichen. Wir haben es hier mit einer Dame mit Niveau zu tun. Wir nehmen nur einen Feldstecher mit, und ihr solltet die Handschellen dabeihaben. Aber das ist auch alles.“Schweißtropfen perlten auf Jacques Pigeats Stirn. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und brannte heiß wie an keinem Tag zuvor in diesem noch jungen Sommer. Er fühlte sich unwohl in dem neuen Wagen, den Signora Castellaci erst vor zwei Tagen gekauft hatte. Die Bedienung der Klimaanlage war ihm noch ein Rätsel. Die Signora hatte ihren Gatten dazu überredet, ihr Geld zu geben, damit sie den alten Renault ersetzen konnte, der schon 125.000 Kilometer auf dem Buckel hatte und angeblich erste Verschleißerscheinungen zeigte. Jetzt saßen sie in einem karamellfarbenen Citroen, und der Kilometerzeiger stand auf: 2100 km. Die Ledersitze, die Holzarmaturen, alles roch noch werkfrisch. Die Bremen reagierten schon auf die leiseste Andeutung eines Druckes. Immer wieder schaute er sich ängstlich um, ob der große Anhänger nicht seitlich ausbrach. Er hatte keinerlei Erfahrungen mit solchen rückwärtigen Vehikeln, nicht einmal einen Wohnwagen hatte er je gesteuert. Sie fuhren auf den Mont Boron zu, der im Osten die Bucht der Engel abschließt und an dessen Fuß das Hafenviertel mit dem Port Lympia und dem Vorhafen liegt. Monsieur Pigeat fädelte sich auf die Spur zum Fährterminal ein, wo die Schiffe nach Calvi auf Korsika ablegten. Glücklicherweise waren sie unter den ersten, so dass sie nicht zu lange warten würden. Er stellte den Motor ab, ließ das Fenster weiter herunter. Marcella ergriff seine Hand. „Freuen Sie sich, Jacques?“„Ja, natürlich. „Noch fünfeinhalb Stunden Überfahrt, dann werden wir uns duzen können und nie mehr Versteck spielen müssen.“„Sofern alles gut geht“, sagte der Sommelier. „Paola erwartet uns schon. Ich habe sie seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen. Sie hatte auch damals was mit meinem Gigolo. Heute kann ich ihr das verzeihen.“Die letzten Tage hatten Jacques physisch stark zugesetzt, er war an die Grenzen seiner Belastbarkeit gestoßen, die enger waren, als er aufgrund seiner großen Statur, seiner breiten Schultern vermutet hatte. Das war der Tribut an die Droge, mit der er aufhören wollte. Aber die Signora hatte ihn gezwungen, auf Vorrat in Kallisté einzukaufen, damit sie die nächsten Jahre „autark“wären, wie sie es ausdrückte. Er hatte sich gewehrt, war aber schließlich doch nach Marseille gefahren. Sie hatte die Schnupftabakdosen überall im Wagen und im Gepäck verteilt. „Wir bleiben ja im Lande“, hatte die Signora arglos gemeint. Kein Zweifel, sie war jetzt mit ihren krummen Touren so lange unbehelligt durchgekommen, dass ein Scheitern jenseits ihrer Vorstellungskraft lag. Bei ihm war es genau umgekehrt: Ihm fehlte die Phantasie sich vorzustellen, dass es immer weiter gut ging. Und dieser Pessimismus, den er, wie ihm sehr wohl bewusst war, schon mit der Muttermilch eingesogen hatte, war durch die Umstände ihrer Abfahrt noch zusätzlich befeuert worden. Kaum waren sie nämlich von der Auffahrt ihres Hauses auf die Promenade des Anglais eingebogen, da war ein Zivilauto herangejagt und hielt mit filmreif quitschenden Reifen direkt vor dem Jugendstil-Palais. Im Rückspiegel hatte Jacques noch gesehen, wie zwei Männer, die sehr nach Kriminalbeamten aussahen, ausstiegen und zielstrebig auf das Gittertor zustrebten. Niemand würde ihnen öffnen. Das Hauspersonal hatte schon gestern zwei Tage frei bekommen. Der Signore war auf dem Linguine-Festival in New York. Aber wenn er, Jacques, und die Signora heute in ihrem schwarzen Renault gefahren wären, der jetzt in der Garage stand, säßen sie schon im Verhörraum auf der Hauptwache, davon war er überzeugt. Jacques sah unbeschwerte Urlauber die Gangway hinaufsteigen. Sie trugen bunte Hemden, Sweatshirts mit lustigen Aufschriften und schleiften pfeifend ihr Gepäck hinter sich her oder hievten übermütige Kinder auf ihre Schultern. Sie machten schon Selfies, bevor sie überhaupt an Bord waren und schnatterten unentwegt in ihr elektronisches Zubehör. Menschen, die mit jeder Geste und jedem Laut den Eindruck verströmten, dass sie sich diesen Abstecher ins Inselglück wohl verdient hatten. So musste er es auch sehen: wohlverdiente Ferien nach harter Arbeit. Nur dass die Ferien für sehr lange geplant waren. An ein normales Arbeitsleben war eigentlich nicht mehr zu denken. Ob die Idee, mit ihren Lasten im Anhänger auf der Insel einen Weinhandel zu gründen, zünden würde, musste sich erst noch erweisen.
Tagelang hatte er Billigwein in den Supermärkten einkaufen müssen, wo ihn kein Mensch kannte.
(Fortsetzung folgt)