Rheinische Post Krefeld Kempen

Das verlorene Paradies

- VON FRANK VOLLMER

Im Anfang war die Arbeit. Gottvater selbst ist, so erzählt die Bibel, der erste Werktätige. Die erste Arbeitswoc­he dauert sechs Tage; es folgt der erste arbeitsfre­ie Sonntag. Die Zustände unmittelba­r danach sind buchstäbli­ch paradiesis­ch: Adam und Eva leben in einem großen Garten, den sie „bebauen und hüten“sollen. Der ehemalige Arbeitsmin­ister Norbert Blüm freilich hat spitz bemerkt, das sei wohl kaum mehr als „leichte Hobbygärtn­erei“gewesen – die köstlichen Früchte wachsen schließlic­h von ganz allein.

Mit alldem aber ist es bald vorbei. Adam und Eva kosten vom verbotenen Baum der Erkenntnis, werden ertappt und von Gott mit den Worten des Paradieses verwiesen: „So ist verflucht der Ackerboden deinetwege­n. Unter Mühsal wirst du von ihm essen alle Tage deines Lebens. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehr­st zum Ackerboden.“Die Erfindung der Arbeit als Plackerei.

Fortan ist Arbeit für den Menschen ein notwendige­s Übel. Der Mensch ist schlechter­dings nicht vorstellba­r ohne Arbeit, ohne sein Leiden an ihr und ohne sein Bestreben, sich von ihr zu befreien. Die antiken Philosophe­n gehen da mit der Bibel durchaus konform. Für Aristotele­s etwa lenkt Arbeit nur vom vollkommen­en Leben ab. Die armen Teufel, die sich plagen, um nicht zu verhungern, sind die Banausen – wörtlich: Ofenarbeit­er. Vollkommen­es Leben, das ist Arbeitslos­igkeit im besten Sinne, nicht angewiesen zu sein auf täglichen Broterwerb: Muße zu haben, seinen Verstand zu gebrauchen, um die Welt zu betrachten und weise zu werden.

Diese Muße, die nicht mit Faulenzen zu verwechsel­n ist, nennen die Römer „otium“; nötige tägliche Erledigung­en sind „negotium“, „Nicht-Muße“: die Geschäfte. „Freisetzun­g“hätte zum Beispiel Cicero nie (wie wir) als Euphemismu­s für „Entlassung“verstanden, sondern als Synonym. „Fern von den Geschäften“zu sein, davon träumt der Dichter Horaz. Wahr ist freilich auch, dass sich diese Freiheit nur leisten kann, wer einen Haufen Geld hat und wessen Sklaven sich für ihn schinden.

Noch ein gutes Stück weiter geht ein jüdischer Wanderpred­iger aus Galiläa, der ebenso wie seine Jünger ironischer­weise Arbeiter ist. Dennoch enthält die Bergpredig­t des Jesus von Nazareth die Warnung: „Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlische­r Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie?“Was Griechen und Römer noch den Sklaven überließen, das soll der Christ Gott anheimstel­len. Lebensunte­rhalt? Zweitrangi­g. „Euch muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigk­eit gehen; dann wird euch alles andere dazugegebe­n.“

So viel Weltverach­tung birgt den Keim der Revolution, und deswegen hat die Kirche alle Hände voll zu tun, Jesus so zu interpreti­eren, dass die christlich­e Arbeitszuc­ht nicht zusammenbr­icht. „Bete und arbeite“ist die Maxime des abendländi­schen Mönchtums. Und Thomas von Aquin stellt fest: „Alle Klassen und Stände sind zur Arbeit verpflicht­et wie jeder einzelne.“Wie es in der Natur des Vogels liege zu fliegen, so liege es in der Natur des Menschen zu arbeiten. So viel zur Bergpredig­t. Die calvinisti­sche Ethik schließlic­h treibt es auf die Spitze: Der Mensch kann nur anhand seines Erfolgs auf Erden feststelle­n, ob er erlöst oder von Gott verworfen ist. Und Erfolg setzt – ja, richtig – harte Arbeit voraus.

Auf dieser Mentalität kann der Kapitalism­us bestens aufsatteln – das 19. Jahrhunder­t verliert in Sachen Arbeit jedes Maß. Arbeitszei­ten von 80 Stunden pro Woche sind um 1825 keine Ausnahme, sondern Durchschni­tt. Zugleich singen Sozialiste­n und Unternehme­r in seltsamer Einigkeit das Hohelied der Arbeit. „Die Müßiggänge­r schiebt beiseite!“, heißt es in der „Internatio­nalen“, und der Berliner Unternehme­r Heinrich Seidel dichtet um 1900: „Völker! Lasst das Murren, Klagen / über Götzendien­erei; / wollt ihr einen Götzen schlagen, / schlagt den Müßiggang entzwei! / Nur die Arbeit kann erretten, / nur die Arbeit sprengt die Ketten, / Arbeit macht die Völker frei!“Arbeit als Mittel, Ziel und Lebenszwec­k.

Wollte die Antike frei sein von Arbeit, so will man nun frei sein durch Arbeit. Ein halbes Jahrhunder­t später dient die Arbeit nicht mehr der humanistis­chen Erbauung, sondern dem Massenmord. Millionen schuften sich in Stalins Lagern zu Tode; Vernichtun­g durch Arbeit praktizier­en Hitlers KZs. Die Nazis schreiben über das Tor von Auschwitz sogar „Arbeit macht frei“– der Zynismus der Henker, gewiss; aber auch fernes Echo der Arbeitsver­götterung der Industriel­len Revolution. „Aus dem modernen Mythos des schließlic­h für spezifisch deutsch gehaltenen Arbeitsgei­stes erwuchs eine der Vernichtun­gsstrategi­en des Völkermord­s“, resümiert der Ethnologe Wolfgang Brückner.

Wer heute in der Bundesrepu­blik „Arbeit macht frei“sagt, muss mit einer An- zeige wegen Volksverhe­tzung rechnen. Und auch die Exzesse des frühen Kapitalism­us sind unvorstell­bar. Mehr noch: Wir sind heute so nahe am verlorenen Paradies wie seit Jahrhunder­ten nicht. Das mag absurd klingen angesichts der Sorge vor Burn-out und der Klagen über ständige Erreichbar­keit, aber es stimmt: Die durchschni­ttliche Arbeitszei­t ist seit Kriegsende um etwa ein Viertel gesunken.

Die große Mehrheit der Zeitgenoss­en ist aus der Geschichte zumindest so weit klug geworden, dass sie die Erlösung nicht mehr von politische­n Umstürzen erwartet. Und unser Wohlstand ist so weit gewachsen, dass wir es uns sogar leisten können, wieder über ein Stück Utopie zu debattiere­n, über eine finanziell­e Revolution. Bedingungs­loses Grundeinko­mmen heißt das und geht so: Der Staat zahlt jedem Bürger monatlich einen festen Betrag, ob er nun arbeitet oder nicht. Im Gegenzug entfallen andere Sozialleis­tungen. In Finnland wird damit experiment­iert, die Schweizer haben es 2016 abgelehnt. Der sozialisti­sche Politiker Benoît Hamon zog in diesem Frühjahr mit der

Bob Black Idee eines Grundeinko­mmens von 750 Euro in den Präsidents­chaftswahl­kampf. Er scheiterte krachend.

Gegen das Grundeinko­mmen sprechen nicht nur seine monströsen Kosten. Es fußt auch auf einem falschen Menschenbi­ld: Die Masse der Bürger erhofft sich ein Leben mit und in Arbeit, nicht ohne Arbeit. Deutschlan­d ist eben nicht der „kollektive Freizeitpa­rk“, über den Helmut Kohl einst spottete. Das Recht auf Arbeit steht in der Erklärung der Menschenre­chte der Vereinten Nationen. Arbeitslos­igkeit ist für Millionen nicht erstrebens­werter Mußezustan­d, sondern Schreckbil­d. „Die wachsende Zahl der Arbeitslos­en wird auf eine Freiheit verwiesen, auf die sie gar nicht vorbereite­t ist“, schrieb 2004 der Historiker Eberhard Straub. Seit einem Jahrzehnt sinken die Zahlen endlich wieder; es gibt mehr Arbeit(splätze), und das wird allgemein als Segen empfunden.

Radikale gibt es natürlich trotzdem noch. Etwa den anarchisti­schen Anwalt Bob Black aus San Francisco, dessen Werk „Die Abschaffun­g der Arbeit“von 1985 mit dem schönen Satz beginnt: „Niemand sollte jemals arbeiten.“Nun weiß auch Black, dass ohne Arbeit die Menschheit schnell verhungern würde; dass man also weiter „Dinge tun“muss,

RP-KARIKATUR: NIK EBERT

„Niemand

sollte jemals arbeiten“

„Die Abschaffun­g der Arbeit“, 1985

wie er es nennt. Arbeit versteht er auch eher wie der erboste Gottvater: als staubige Strapaze. Black will eine „ludische Revolution“, „ein auf Spielen gegründete­s Leben“. Ein bisschen wie die Kommuniste­n, die von einem Zustand träumten, in dem jeder die Arbeit verrichtet, die ihm gerade am meisten gerecht wird. Das ist natürlich weltfremd. So weltfremd wie die Bergpredig­t.

Es gibt übrigens einen Bibeltext, viel weniger bekannt als die Schöpfungs­geschichte, einen Abschnitt aus dem Buch der Sprichwört­er, der unseren irdischen Verdruss etwas lindern mag. Darin redet die Weisheit selbst: „In frühester Zeit wurde ich gebildet, am Anfang, beim Ursprung der Erde. Als er den Himmel baute, war ich dabei.“Und dann folgen zwei bemerkensw­erte Sätze: „Ich war seine Freude Tag für Tag und spielte vor ihm allezeit. Ich spielte auf seinem Erdenrund, und meine Freude war es, bei den Menschen zu sein.“Während der Schöpfung wurde also nicht nur gearbeitet, sondern auch gespielt. Ob Bob Black das weiß? Aus dieser Vereinigun­g der Gegensätze lässt sich lernen: Es gibt nicht nur Erfüllung oder Mühsal, Freiheit oder Zwang. Zur Arbeit gehört beides. Zu ihr gehören auch Grenzen – objektiv wie subjektiv, zeitliches Maß und innere Unabhängig­keit.

Das verlorene Paradies bekommen wir nicht zurück. An das verlorene Paradies zu erinnern, muss aber nicht nur erlaubt, es kann auch sehr nützlich sein.

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