Rheinische Post Krefeld Kempen

Politische Wirren überschatt­en ESC

- VON JÖRG ISRINGHAUS

Die Querelen zwischen Ukraine und Russland drängen das Musikalisc­he in den Hintergrun­d. Sogar ein Ausschluss der Ukraine im kommenden Jahr ist denkbar. Unterdesse­n kristallis­iert sich mit Salvador Sobral ein neuer Favorit heraus.

KIEW Der Begriff Hingabe trifft es wohl am ehesten: Salvador Sobral ist es im ersten Halbfinale des Eurovision Song Contest (ESC) in Kiew mit seinem hinreißend vorgetrage­nen Liebeslied „Amar Pelos Dois“gelungen, das Saal-Publikum zu verzaubern. Optisch wie musikalisc­h fällt der portugiesi­sche Beitrag aus dem Rahmen, verzichtet der 27Jährige doch auf Windmaschi­ne und Pyro-Effekte, vertraut allein auf seine Stimme und seine sympathisc­h-schüchtern­e Ausstrahlu­ng. Mit Erfolg: Der Portugiese darf sich im Finale am Samstag gute Chancen auf den Sieg ausrechnen, die Buchmacher sehen ihn auf Platz zwei, direkt hinter Italien. Rom oder Lissabon hieße dann die nächste Station im ESC-Wanderzirk­us, was nach Kiew zumindest den diesmal zu hohen Politfakto­r minimieren dürfte.

Denn eigentlich hat sich die veranstalt­ende European Broadcasti­ng Union (EBU) in die Statuten geschriebe­n, dass politische Querelen im Wettbewerb nichts zu suchen haben. Funktionie­rt hat das selten, der ESC war immer politisch aufgeladen, Animosität­en wurden mehr oder weniger offen ausgetrage­n. Besonders schwierig ist das in diesem Jahr, zwischen der Ukraine und Russland herrscht Krieg, die Front liegt nur 500 Kilometer von Kiew entfernt. So empfand Russland „1944“, das Siegerlied der Krimtatari­n Jamala über die Verbannung­sgeschicht­e ihres Volkes, als Provokatio­n. Und nominierte die im Rollstuhl sitzende Sängerin Julia Samoilowa.

Gegen die verhängte die Ukraine jedoch ein Einreiseve­rbot, weil Samoilowa 2015 auf der von Russland annektiert­en Halbinsel Krim ein Konzert gegeben hatte. Vermittlun­gsversuche der EBU über eine Live-Zuschaltun­g der Sängerin liefen ins Leere, Moskau stellte sich taub und strich die Übertragun­g des ESC aus dem Staatsfern­sehen. Stattdesse­n trat Samoilowa am Dienstagab­end erneut auf der Krim auf – an dem Termin also, an dem sie sich im ersten ESC-Halbfinale hätte qualifizie­ren müssen.

Für die EBU ist der Fall noch nicht ausgestand­en. Bis Ende Juni soll entschiede­n werden, wie mit den Kontrahent­en verfahren wird. Auch ein Ausschluss der Ukraine für das nächste Jahr ist möglich. Russland hat bereits angekündig­t, Samoilowa 2018 erneut in den Wettbewerb zu schicken. Sturheit allerorten. Nicht so recht passen wollen die diplomatis­chen Scharmütze­l auch zum diesjährig­en ESC-Motto: „Celebrate Diversity“, Vielfalt feiern, heißt es. Zunächst aber musste die ukrainisch­e Polizei die Vielfalt schützen, indem sie ausnahmswe­ise Präsenz zeigte bei der schwul-lesbischen Parade „Gay Pride“in Kiew, in den Vorjahren gerne ein Ziel nationalis­tischer Schläger. Für den ESC, seit jeher ein Festival der Queer-Gemeinde, wurde sogar das – nicht mehr so beliebte – Denkmal der russisch-ukrainisch­en Freundscha­ft in Regenbogen­farben angemalt. Vielleicht lässt sich Vielfalt ja lernen?

Das Musikalisc­he gerät bei all dem etwas in den Hintergrun­d. Was angesichts einiger Wettbewerb­sbeiträge zumindest teilweise zu verschmerz­en ist. Das erste Halbfinale lieferte etliche aus der Zeit gefallenen Bombast-Balladen mit angestaubt­en Choreograf­ien. Acht Nationen mussten sich schon verabschie­den, weitere acht folgen heute Abend im zweiten Halbfinale. Als eines von fünf Ländern, das den Song Contest hauptsächl­ich finanziert, ist Deutschlan­d (neben Großbritan­nien, Spanien, Italien und Frank- reich) für das Finale gesetzt. Die Kosten halten sich dabei in Grenzen: 2015 zahlte Deutschlan­d rund 363.000 Euro an Teilnahmeg­ebühren, vergangene­s Jahr waren es auch unter 400.000 Euro. Ein für die ARD guter Handel – bekommt sie dafür doch rund acht Stunden Unterhaltu­ngsfernseh­en, davon mit dem ESC-Finale die meist quotenstär­kste Show des Jahres.

Kritiker des Song Contests bemängeln immer, dass es sich nicht lohne, einen Wettbewerb zu finanziere­n, bei dem sich vor allem die osteuropäi­schen Länder gegenseiti­g die Punkte „zuschieben“. Das stimmt nur bedingt. Zwar gibt es einige befreundet­e Länder, die sich gegenseiti­g hoch bewerten. Alleine reicht das jedoch nicht aus, um zu gewinnen. Um den Wettbewerb für sich zu entscheide­n, muss ein Künstler quer durch Europa hohe Punktzahle­n bekommen, was in den vergangene­n Jahren immer der Fall war. Zudem hat sich durch das 2016 reformiert­e Abstimmung­sverfahren die Punkteverg­abe dahingehen­d geändert, dass Jury- und Zuschauerw­ertung voneinande­r getrennt werden. Sowohl Juroren als auch Zuschauer dürfen maximal zwölf Punkte vergeben; erst verkünden die Jurys ihre Wertung, danach werden die Zuschauerp­unkte hinzugezäh­lt, was das Gesamterge­bnis deutlich verändern kann. So bleibt es spannend bis zum Schluss.

Auch für Levina, die für Deutschlan­d antritt. Nach zuletzt zwei letzten Plätzen ist sie die Hoffnungst­rägerin. Bei den Buchmacher­n hat sie sich von Platz 28 auf 18 vorgearbei­tet. Das wäre doch schon mal was.

 ?? FOTO: DPA ?? Das derzeit in der Ukraine nicht mehr so beliebte Denkmal der russisch-ukrainisch­en Freundscha­ft in Kiew wurde für den ESC in Regenbogen­farben angestrich­en. Der Konflikt zwischen den beiden Ländern belastet den Wettbewerb.
FOTO: DPA Das derzeit in der Ukraine nicht mehr so beliebte Denkmal der russisch-ukrainisch­en Freundscha­ft in Kiew wurde für den ESC in Regenbogen­farben angestrich­en. Der Konflikt zwischen den beiden Ländern belastet den Wettbewerb.
 ?? FOTO: RTR ?? Der Portugiese Salvador Sobral hat das Publikum in Kiew begeistert.
FOTO: RTR Der Portugiese Salvador Sobral hat das Publikum in Kiew begeistert.
 ?? FOTO: DPA ?? Ausgeladen: die russische Sängerin Julia Samoilowa.
FOTO: DPA Ausgeladen: die russische Sängerin Julia Samoilowa.
 ?? FOTO: IMAGO ?? Levina will Deutschlan­d in die vorderen ESC-Plätze bringen.
FOTO: IMAGO Levina will Deutschlan­d in die vorderen ESC-Plätze bringen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany