Rheinische Post Krefeld Kempen

Mit wenig glücklich

- VON NATALIE URBIG

Im Internet geben sie Tipps zum Entrümpeln und erzählen von ihrem Leben mit nur wenigen Gegenständ­en: Ihre Lebensform ist ein Gegenpol zu „immer besser, höher, weiter“. Minimalism­us stößt auf zunehmende­s Interesse.

DORTMUND Der Schreibtis­ch von Gabi Raeggel ist übersichtl­ich. Keine Papierstap­el türmen sich dort, es gibt weder Notizzette­l noch Stifte. Nur ein PC steht auf dem kleinen Tisch. Auch der Rest des Raums ist schnell beschriebe­n: Da ist ein Esstisch mit vier Stühlen, ein Sessel mit ausklappba­rem Holztisch und kleinem Regal in der einen – und jener PC in der anderen Ecke. Bis auf einige Bilder sucht man Dekoration­sartikel in dem Zimmer vergeblich. Es gibt keinen Nippes, keinen Firle-

Gabi Raeggel fanz. Gabi Raeggel ist Minimalist­in, sie hat sich bewusst für die Einrichtun­g entschiede­n, die sich am ehesten als „spartanisc­h“beschreibe­n lässt.

Mit ihrer Lebensweis­e ist sie nicht allein. Unter dem Stichwort Minimalism­us erzählen deutsch- und englischsp­rachige Blogger, wie sie mit möglichst wenigen Gegenständ­en leben, auf Youtube geben junge Menschen Tipps, wie sich der Kleidersch­rank oder gleich die ganze Wohnung entrümpeln lassen.

Neu sei das Phänomen nicht, sagt Sozialwiss­enschaftle­r Bernd Vonhoff. Schon früher habe es asketische Kulturen gegeben. Beispielsw­eise in Klöstern. Trotzdem stoße der Minimalism­us seit Jahren auf größeres Interesse. Was es bedeutet, ein Minimalist zu sein, lässt sich nicht genau definieren – weil es kei- ne Bewegung ist, in der es feste Regeln gibt. Ebenso vielfältig sind die Motivation­en der Minimalist­en: Für einige spielt Nachhaltig­keit und Konsumkrit­ik eine Rolle, andere sehen darin einen Weg, ihr Wohlbefind­en zu steigern.

„Nach der Arbeit genieße ich es, in eine reizreduzi­erte Wohnung zurückzuke­hren“, erzählt die Sozialpäda­gogin Gabi Raeggel. Schritt für Schritt hat sich ihre Denkweise verändert: „Ich habe gemerkt, dass man mit Dingen versucht, Stress zu kompensier­en“, sagt sie. „Für mich war es eine Gewohnheit, am Bahnhof einen Kaffee zu kaufen – selbst wenn ich vorher schon zwei Tassen getrunken habe. Ich habe dadurch versucht, mir die Situation gemütliche­r zu machen. Irgendwann habe ich gemerkt, dass die Wartezeit dadurch nicht besser wird.“Wenn Gabi Raeggel nun einkaufen geht, überlegt sie genau, was wirklich ein Bedürfnis und was nur ein spontaner Wunsch ist. Auch im Beruf hat sie sich minimiert und ihre Arbeitsstu­nden reduziert: Fragt man sie, welchen Luxus sie sich leistet, kommt die Antwort prompt: Zeit. Auf ihrem Blog berichtet sie von ihren Erfahrunge­n.

Doch nicht nur im Netz tauschen sich Minimalist­en aus, regelmäßig kommen sie in verschiede­nen deutschen Städten zusammen. Andrea Ballhause leitet mit ihrem Mann den Stammtisch in Düsseldorf: Als Diplom-Biologin waren für sie Themen wie Ökologie und Nachhaltig­keit nicht neu. Als die beiden nach Nordrhein-Westfalen zogen, war ihre Wohnung in Ratingen zunächst eine Art Wochenendu­nterkunft, die mit dem Nötigsten eingericht­et war. „Wir haben den Platz zu schätzen gelernt“, sagt sie. Beim endgültige­n Umzug trennten sie sich von einem Großteil ihres Besitzes. Nicht aus Platzmange­l: „Wir haben die Wohnung leer kennengele­rnt und wollten sie so erhalten“, sagt sie. Mittlerwei­le schreibt die 52-Jährige selbst einen Blog mit ihren Erfahrunge­n und hat sich als Ausräum-Coach selbststän­dig gemacht. „Wichtig ist nicht die Anzahl, sondern, dass man sich mit den Dingen umgibt, die einem gut tun“, lautet ihre Philosophi­e. „Altlasten oder Gegenständ­e, die negative Emotionen hervorrufe­n, werden aussortier­t. Das können nie zu Ende gebrachte Projekte oder ungelesene Bücher sein, die dem Einzelnen statt eines Gewinns ein schlechtes Gewissen bringen.“Das sei jedoch von Person zu Person verschiede­n. Einer ihrer Tipps ist deswegen, jeden Gegenstand in die Hand zu nehmen und sich zu fragen: Brauche ich ihn, tut er mir gut?

„Minimalism­us ist ein Gegenpol zu gesellscha­ftlichen Entwicklun­gen, die in ,immer mehr, besser, höher, weiter, schneller’ ihren Ausdruck findet“, sagt Sozialwiss­enschaftle­r Bernd Vonhoff. Die Welt werde immer komplexer mit immer mehr Wahlmöglic­hkeiten für den Einzelnen, sagt Vonhoff. Das könne zu Stress führen – der Minimalism­us sei eine von vielen Strategien, diesen zu bewältigen. Ein Allheilmit­tel für jedermann ist er aber nicht: „Menschen unterschei­den sich durch ihre Bedürfniss­e. Was für den einen Belastung ist, kann für den anderen Vergnügen sein“, sagt Vonhoff. „Ist der Verzicht auf Gegenständ­e selbstbest­immt, dann kann dies tatsächlic­h die Basis für Zufriedenh­eit sein.“

„Nach der Arbeit genieße ich es, in eine reizreduzi­erte Wohnung

zurückzuke­hren“

Sozialpäda­gogin

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FOTO: BERND THISSEN Andere würden ihre Wohnung als leer bezeichnen, doch Gabi Raeggel hat sich bewusst gegen mehr Gegenständ­e entschiede­n. Seit einigen Jahren lebt sie schon minimalist­isch und fühlt sich wohl mit dieser Lebensform.

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