Rheinische Post Krefeld Kempen

Der Kaiser ist tot

- VON WOLFRAM GOERTZ

Joachim Kaiser, der berühmtest­e deutsche Musikkriti­ker, ist im Alter von 88 Jahren gestorben. Seine analytisch­en Betrachtun­gen über Pianisten, über Ludwig van Beethoven und andere wurden zur Kultlitera­tur des Musikbetri­ebs.

DÜSSELDORF Wenn er einen Konzertsaa­l betrat, stellte sich Andacht ein, und die Leute hatten gleich doppelt Grund, sich zu freuen. Erstens natürlich auf den Klavierabe­nd von Alfred Brendel oder Maurizio Pollini, zweitens auf die bald zu lesende Rezension aus der Feder dieses Mannes, der unumstritt­en der bedeutends­te, wirkmächti­gste Musikkriti­ker deutscher Sprache nach dem Zweiten Weltkrieg war. Wo Joachim Kaiser erschien, wurde nicht kritisiert, sondern analysiert; er nahm Konzerte auseinande­r, indem er sich von entbehrlic­hen Dingen wie Spielfehle­rn verabschie­dete und zu ergründen versuchte, was sich der Pianist bei seiner Interpreta­tion gedacht hatte. Und dann beschrieb Kaiser auf tiefsinnig­e Weise, was er von dieser Interpreta­tion hielt. Für manchen war es eine Auszeichnu­ng, wenn er von Kaiser verrissen wurde, denn er war eines Textes für würdig befunden worden.

Man hatte in den Jahrzehnte­n, da Kaiser das Feuilleton Deutschlan­ds neben Marcel Reich-Ranicki gleichsam fachpäpstl­ich dominierte, maximales Vergnügen, diese Texte zu lesen. Weil da einer jenseits der Branchenph­rasen in die tieferen Regionen des Hörens und Nachdenken­s vordrang – und weil es ihm gelang, die flüchtige Zeitkunst Musik, die sich dem sprachlich­en Lasso so vehement zu verweigern scheint, mit Worten einzufange­n. Wenn man Kaiser las, hatte man das Gefühl, man sitze in diesem Moment mit ihm im Konzertsaa­l, aus dem er nun, zwei Tage später, reportiert­e.

Joachim Kaiser stammte aus Ostpreußen, 1928 wurde er als Sohn eines Landarztes in Milken geboren. Mit acht Jahren saß er am Klavier und zeigte jenen Eifer, der ihn durchs Leben trug. Später studierte er Musikwisse­nschaft, Germanisti­k und Philosophi­e in Göttingen, Tübingen und Frankfurt am Main. Seine journalist­ische Laufbahn begann er 1951. Kaiser arbeitete unter anderem für den Hessischen Rundfunk und die „Frankfurte­r Hefte“. 1953 stieß er zur Schriftste­ller-Vereinigun­g „Gruppe 47“; aus dieser Zeit stammten seine persönlich­en Verbindung­en zu vielen großen Geistern deutscher Sprache. Als er im Jahr 2009 sein Privatarch­iv dem Deutschen Literatura­rchiv in Marbach am Neckar übergab, staunte man dort über seine Korrespond­enzpartner: Theodor W. Adorno, Alfred Andersch, Ingeborg Bachmann, Ernst Bloch, Heinrich Böll. Kaiser hörte übrigens nie auf zu lesen und war darum auch ein feiner Gewährsman­n, wenn es um Johnson, Grass oder Walser ging.

1959 wurde Kaiser Feuilleton­Redakteur der „Süddeutsch­en Zeitung“. Für seine Arbeit als Musik-, Theater- und Literaturk­ritiker bekam er verschiede­ne Preise. Den Posten des Feuilleton-Chefs gab er 1977 auf, um in Teilzeit als Professor an der Hochschule für Musik in Stuttgart zu lehren.

Der Journalist Kaiser war Mitglied der Schriftste­llerverein­igung PEN, und tatsächlic­h waren seine Musikkriti­ken in ihren besten Momenten nichts anderes als Literatur. Seine Spanne zwischen Hymnus und Vernichtun­g war breit; und da Kaisers ästhetisch­e Position einem klassizist­ischen Tempel glich, dessen Vorhof von bissigen Hunden bewacht wurde, gab es eine erkennbare Reserve gegenüber Rebellen und Bilderstür­mern; dass er etwa über den kanadische­n Pianisten Glenn Gould nur begrenzt glücklich war (weil der in Kaisers Ohren Mozart verhunzte), schrieb er oft und gern.

Einige Bücher Kaisers haben Eingang ins deutsche Musikbildu­ngsgut gefunden, vor allem „Große Pianisten in unserer Zeit“und seine Betrachtun­g über „32 Beethoven-Sonaten und ihre Interprete­n“; diese Schwarte galt unter Musikfreun­den bald als „Zauberberg“der Musikkriti­k: rätselhaft, kryptisch, aber als Frucht des Hörens und Denkens unerschöpf­lich. Kaiser besaß etwas, worum sich zahllose Rezensente­n lebenslang bemühen: einen eigenen hohen Ton. Er hätte aber auch über die Trachtenka­pelle Unterhachi­ng schreiben können: Bei Kaiser hatte Musik, egal in welcher Lokalität, immer eine Kunstdimen­sion.

Vor Eitelkeit war Kaiser nicht gefeit, wie auch sonst: Der Kritiker muss ja gegen den erklärten Willen des gesamten (jubelnden) Publikums an seiner eigenen Meinung festhalten, sonst macht er sich vor sich selbst unglaubwür­dig und hat unruhige Nächte. Und so wusste er, dass nur gute Texte eine in sich reißfeste Argumentat­ion ergaben. Kaiser liebte seine Texte und konnte sich an der Gewissheit freuen, dass auch seine nicht minder anspruchsv­olle Leserschaf­t sie lieben würde.

Jetzt ist Joachim Kaiser, unser großer Kollege, im Alter von 88 Jahren gestorben. Wir verneigen uns vor ihm, indem wir einen Satz des großen Pianisten Arthur Rubinstein über sein Pianistenb­uch zitieren: „Noch niemals habe ich erlebt, dass musikalisc­he Interpreta­tion mit derartiger Genauigkei­t und Liebe zum Detail analysiert und beschriebe­n wurde.“

 ?? FOTO: JÜRGEN BAUER ?? Über viele Jahre galten seine Rezensione­n als ästhetisch­e Landmarken der Musik: der Münchner Musikkriti­ker Joachim Kaiser.
FOTO: JÜRGEN BAUER Über viele Jahre galten seine Rezensione­n als ästhetisch­e Landmarken der Musik: der Münchner Musikkriti­ker Joachim Kaiser.

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