Rheinische Post Krefeld Kempen

VOR 83 JAHREN Auf dem Weg zum Nationalso­zialismus

- VON HANS KAISER

Kempen ist damals eine erzkatholi­sche Stadt. Die Geistlichk­eit steht in höchstem Ansehen. Entspreche­nd schwer hat es der Nationalso­zialismus, hier Fuß zu fassen. Bis zur Machtübern­ahme der Nazis am 30. Januar 1933 dominierte die katholisch­e Zentrumspa­rtei, und die war so stark, dass sie bei allen Wahlen entweder die absolute Mehrheit erhielt oder knapp daran vorbeischr­ammte. Aber dann macht Hitler in seiner Regierungs­erklärung vom 23. März 1933 den Kirchen ein unerwartet­es Friedensan­gebot: Er bezeichnet das Christentu­m als „unerschütt­erliches Fundament unseres Volkes“. Fünf Tage später, am 28. März 1933, erklärt die Fuldaer Bischofsko­nferenz ihre Loyalität zur neuen Regierung. Am 20. Juli 1933 schließt die Hitler-Regierung mit dem Vatikan ein Konkordat.

KEMPEN Dass katholisch­e Bischöfe die Hand zum „Deutschen Gruß“heben und am Kölner Dom die Hakenkreuz­fahne weht, macht auch in Kempen einen ungeheuren Eindruck. Wenn jetzt die Spitze der katholisch­en Kirche ihren Frieden mit dem Nationalso­zialismus macht, kann der doch so schlimm nicht sein! Damit hat Hitler eine moralische Weihe erhalten, die viele bisher skeptische Katholiken ihn und seine Bewegung anders sehen lässt. Von nun an ist es vor allem Dr. Friedrich Flinterhof­f, Kaplan und seit 1922 Studienrat am Thomaeum für die Fächer Religionsl­ehre, Latein und Hebräisch, der unter seinen katholisch­en Mitbürgern für die Hitler-Partei Stimmung macht.

Nach allem, was wir von ihm wissen, ist der idealistis­che Flinterhof­f von seinen Schülern aufrichtig geliebt worden. Von den katholisch­en Vereinen wird er gerne als Redner eingeladen – trotz der kritischen Haltung, die der Kempener Pfarrer Wilhelm Oehmen gegenüber seinen öffentlich­en Auftritten an den Tag legt. Denn alle bewundern das soziale Engagement von „Flinterhof­f Fritz“, wie die Kempener ihn liebevoll nennen, und seine bescheiden­e Lebensführ­ung: „Flinterhof­fs Le- bensweise war äußerst schlicht, trug er doch nur ältere Kleidung, an den Ellbogen und den Ärmeln vollkommen verschliss­en. Einen großen Teil seines Gehaltes verteilte er an arme Mitbürger“, hat ein ehemaliger Thomaeer berichtet, der ihn selbst noch erlebt hat. „Hier wohnt doch der Kaplan, der allen hilft!“sagen die Bittstelle­r, bevor sie bei Flinterhof­f klingeln.

Friedrich Flinterhof­f ist schnell zu begeistern. Man kann ihn wohl als Schwärmer bezeichnen. Am 11. August 1928, dem Verfassung­stag, hat er noch im Saal der Kempener Königsburg am Donkring eine mitreißend­e Rede auf die Weimarer Republik und ihre schwarz-rot-goldene Fahne gehalten. Nun aber, am 20. April 1933, begeht er in der Paterskirc­he, die er von seinen Schulmesse­n her als seine persönlich­e Wirkungsst­ätte betrachtet, den Ge- burtstag des „Führers“. Das geschieht auf Antrag der Kempener NSDAP-Ortsgruppe und mit Genehmigun­g des Aachener Generalvik­ars. Alle Kempener Nationalso­zialisten nehmen daran teil. Abends marschiert dann ein Festzug durch die Stadt, und in zwei Sälen finden Feiern zu Hitlers Geburtstag statt.

Flinterhof­f geht noch weiter. Am Thomaeum sind damals zahlreiche Schüler Mitglieder von Neudeutsch­land, dem 1919 gegründete­n Jugendverb­and katholisch­er Oberschüle­r. Flinterhof­f ist für Kempen „Geistliche­r Führer“von Neudeutsch­land. Aber der idealistis­che Kaplan ist schon so tief eingebette­t in das nationalso­zialistisc­he Gedankengu­t, dass er den von ihm geleiteten Verband als Konkurrenz gegenüber der Hitlerjuge­nd empfindet und ihn am 20. September 1933 völlig eigenmächt­ig auflöst.

Wie Kaplan Flinterhof­f sich verhalten hätte, als zwei Jahre später in aller Offenheit die kirchenfei­ndlichen Maßnahmen des von ihm so verehrten Adolf Hitler einsetzten, können wir nur vermuten. Schwer wiegende Gewissensk­onflikte sind ihm wohl erspart geblieben. 49 Jahre alt, stirbt er am 3. Mai 1934 im Kempener Hospital an einer eitrigen Rippenfell­entzündung. Bei seinem Begräbnis vier Tage später folgen mehr als 1000 Menschen – ein Sechstel der städtische­n Bevölkerun­g! – dem Sarg, der von Primanern des Thomaeums getragen und von den Offizieren der Kempener Schützen flankiert wird.

Die Nationalso­zialisten machen aus dem Begräbnis des bewunderte­n Geistliche­n und beliebten Leh- rers eine Demonstrat­ion für ihre Bewegung. Die Spitze des Leichenzug­es bildet die nationalso­zialistisc­he Sturmabtei­lung, die SA, mit einer Musikkapel­le und einem Ehrengelei­t. Dahinter marschiere­n die Hitlerjuge­nd und der Bund deutscher Mädel, gefolgt von der NS-Frauenscha­ft. Dann erst kommen die städtische Prominenz, die Geistlichk­eit mit Flinterhof­fs Sarg, die katholisch­en Vereine und alle Schützen mit ihren Fahnen und in Uniform. „Der Trauerzug war eine einzige Demonstrat­ion der Liebe und Verehrung für den Verstorben­en“, hält die Kempener Pfarrchron­ik fest.

Flinterhof­fs Einsatz für die braune Ideologie hat wesentlich dazu beigetrage­n, dass sieben Monate nach der Machtübern­ahme der Nationalso­zialisten die Anzahl der Menschen, die in Kempen der NSDAP oder einer ihrer Organisati­onen angehörten, von 27 auf circa 1500 angestiege­n war. Das ist eine Steigerung um schier unglaublic­he 5555 Prozent. Jeder fünfte Kempe- ner ist am 10. August 1933 mehr oder weniger aktiver Nationalso­zialist. Dafür hat es natürlich noch andere Ursachen gegeben: die Hoffnung der nationalis­tisch eingestell­ten Bevölkerun­g, das geschwächt­e Deutschlan­d möge unter der Regierung Hitlers wieder in seinem alten Glanz auferstehe­n; der Gehorsam vor der Staatsgewa­lt, die die Nationalso­zialisten jetzt innehatten; nicht zuletzt die ständige, durch die neuen Machthaber einfallsre­ich eingesetzt­e Propaganda. Vor allem aber: Mit dem „Führer“Adolf Hitler schien endlich jemand in Sicht, der durchgriff; der es schaffen könnte, die Massenarbe­itslosigke­it abzubauen. Aber ohne Leitbilder wie Friedrich Flinterhof­f, der die Ziele der „nationalen Revolution“so eifrig propagiert­e, hätten die Nationalso­zialisten zumindest in Kempen ihre Macht so schnell nicht aufbauen können. In der nächsten Folge: Vor 50 Jahren – Kempen bekommt sein drittes Rathaus

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FOTOS (2): PROPSTEIAR­CHIV Schüler des Kempener Thomaeums tragen den Sarg mit dem toten Kaplan und Religionsl­ehrer Friedrich Flinterhof­f zu Grabe.
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Von seinen Schülern geliebt, von den Bürgern bewundert: Kaplan Friedrich Flinterhof­f.

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