Rheinische Post Krefeld Kempen

Frankreich­s Faible fürs Fahrrad

- VON STEFAN KLÜTTERMAN­N

Aus der Historie heraus ist das Vélo für unsere Nachbarn mehr als nur Fortbewegu­ngsmittel. Es ist Ausdruck nationaler Identität. Im Alltag genauso wie bei der Tour de France, die in 50 Tagen in Düsseldorf in ihre 104. Auflage startet.

DÜSSELDORF Die Franzosen und das Fahrradfah­ren – das ist nicht nur die Beziehung zwischen einer Nation und einem Fortbewegu­ngsmittel. Das ist mehr. Es ist Selbstvers­tändnis, Begeisteru­ng. Ja, zuweilen spirituell erhöhte Projektion. Wie beim Ethnologen Marc Augé, der im Vorjahr in einem Interview mit der „Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung“erklärte: „Wer Rad fährt, erfährt die Ewigkeit.“Der Mann ist 81, und er dürfte vielen seiner Landsleute mit seiner Hommage an das „Vélo“, das Fahrrad, aus der Seele gesprochen haben. Dann, wenn er sich an seine Kindheit erinnert, wie er bei seinen Großeltern in der Provence das Radfahren gelernt hat: „Ich fühlte mich frei, das Radfahren weitete meinen Horizont“, sagte er.

Die besondere Beziehung zum Fahrrad speist sich in Frankreich aus der Historie, und da aus zwei Aspekten: dem Rad als Fortbewegu­ngsmittel und dem Rad als Sportgerät. Die eine Funktion des Vélo ist ohne die andere kaum denkbar. Denn Frankreich ist ohne seine Tour de France nicht denkbar – das größte Radrennen der Welt, aber vor allem Mythos der nationalen Einheit zwischen der Hauptstadt Paris und den Départemen­ts in der Fläche. In das vom französisc­hen Historiker Pierre Nora in den 1980ern entworfene Konzept der „Lieux de mémoire“, der Erinnerung­sorte, findet die Tour natürlich Eingang. Seit 1903 führt die Große Schleife durch Frankreich, und damals etablierte sich das Radrennen an sich zum beliebten Freizeitan­gebot fürs Volk, egal ob als regionales Ereignis oder in der nationalen Spitze.

1896 gab es in Frankreich bereits eine Million Fahrräder. In Deutschlan­d waren es zur selben Zeit nur etwa 500.000. In Édouard Michelin hatte 1891 ein Franzose das Fahrradfah­ren mit der Erfindung des Luftreifen­s, eines austauschb­aren Gummireife­ns mit Luftschlau­ch, revolution­iert. Paris bildete zu dieser Zeit immer wieder den Stand der Fahrrad-Technik ab. Französisc­he Modelle wurden nach Deutschlan­d und in die Niederland­e exportiert. Ende des 19. Jahrhunder­ts war das Rad Massenprod­uktionswar­e, und als Massenprod­uktionswar­e nutz- ten es eben auch breite Bevölkerun­gsteile. Es sind die Bilder von Fernand Léger (1881 bis 1955), die seine Landsleute als Radfahrer festhielte­n, als Menschen, die dem Maschinenr­hythmus der Fabriken und der Enge der Städte mit Muskelkraf­t in die Natur entkommen.

In den 1930ern war das Rad längst Kult in Frankreich. Das Fahrrad war das populäre Fortbewegu­ngsmittel der Arbeiterkl­asse. Gleichzeit­ig verlieh die Tour de France den radelnden Arbeitern Prestige und einen Hauch von Glamour, von der großen Welt, die einem Arbeiter aus nächster Nähe naturgemäß verwehrt blieb. „Diese Verbindung zwischen dem Rad als Transportm­ittel des Proletarie­rs und dem Rad als Instrument des sportliche­n Helden, die hat den Kult und den Mythos des Radfahrens begründet“, findet auch Ethnologe Augé.

24 Jahre älter als Augé ist Robert Marchand, 105 also. Er stellte im Januar mit 22,547 gefahrenen Kilometern im Velodrom von Quentin-EnYvelines in Paris einen Stundenwel­trekord in seiner Altersklas­se auf. „Was ich mache, kann jeder. Das Schwierigs­te ist, 100 Jahre zu leben“, sagte er. Mit 105 taugt Marchand jedenfalls zum lebenden Beweis von Augés These: „Wer Rad fährt, erfährt die Ewigkeit.“

Doch in den vergangene­n Jahren ist die Liebe der Franzosen zu ihrem Fahrrad ein wenig erkaltet. Die Regierung hat festgestel­lt: Im Alltag wird zu wenig geradelt, weniger als in Deutschlan­d und noch viel weniger als in Dänemark oder den Niederland­en. Deswegen beschloss man 2012 einen nationalen VéloPlan. Der Anteil der Radfahrer am Gesamtverk­ehr soll bis 2020 auf zehn Prozent steigen, zudem will Frankreich das beliebtest­e Radtourism­usziel Europas werden. 2015 setzte Paris noch einen drauf: Mit Investitio­nen von 150 Millionen Euro will die Hauptstadt 2020 Fahrrad-Welthaupts­tadt sein. 15 Prozent der Verkehrste­ilnehmer sollen dann Radfahrer sein – das wäre eine Verdreifac­hung. Es soll 10.000 neue Stellplätz­e und eine Verdopplun­g auf 1400 Kilometer Radwege geben.

Soll ja keiner sagen, die Grande Nation ließe ihr Vélo im Stich.

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FOTO: IMAGO 1903 in Paris: Tour-de-France-Sieger Maurice Garin (re.) neben einem nicht bekannten Mann.
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