Rheinische Post Krefeld Kempen

VOR 50 JAHREN Vom Herrenhaus zum Cobbers-Bau

- VON HANS KAISER

Lange ist es her, dass Kempen sein erstes Rathaus bekam. Das war in der Zeit, als sich die Stadt unter dem Schutz des Kölner Erzbischof­s, der gerade seine Burg fertig gestellt hatte, zu einem dynamische­n Gemeinwese­n entwickelt­e.

KEMPEN Im Jahr 1294 hören wir von Bürgermeis­tern, seit 1322 entwickelt sich ein Stadtrat, 1372 kommt das Marktrecht. Daraus entstehen nicht weniger als sechs Märkte jährlich, die Zahl ist im Kurfürsten­tum Köln Spitze. Fehlt nur noch ein Rathaus. Das wird kurz vor 1400 gebaut: natürlich am Markt – wo sich heute der Durchgang zum Kirchplatz und die 1957 errichtete­n Niermann-Arkaden befinden. Ein schlichter, multifunkt­ionaler Bau für die Zusammenkü­nfte der Zünfte und Bruderscha­ften, für die Sitzungen des städtische­n Rats und des kurfürstli­chen Gerichts. Im frommen Kempen sind die Bürger nicht an kommunaler Prachtentf­altung interessie­rt, sondern am Bau und der Ausstattun­g der Pfarrkirch­e. Die liegt im Zentrum der Stadt, und Spenden und Vermächtni­sse fließen nicht in ein repräsenta­tives Stadthaus wie in Kalkar oder Wesel, sondern in das Gotteshaus.

„Kurie“, wie der lateinisch­e Ausdruck für Gemeindeha­us lautet, hat man in Kempen diesen ersten, kurz vor 1400 errichtete­n Verwaltung­sbau genannt. Ein anderer Name war „Herrenhaus“, weil sich hier die in der Stadt Ton Angebenden trafen. Im Lauf der Jahrhunder­te wird das erste Gemeindeha­us baufällig, Ersatz muss her. Am 2. April 1749 beschließt der Stadtrat den Neubau eines wirklichen Rathauses. Beauftragt wird der Stadtbaume­ister Friedrich Vogts. Der neue, repräsenta­tive Bau nimmt in einem vorgesetzt­en Arkadengan­g die Stadtwaage auf, die heute noch im Kramer-Museum aufbewahrt wird. Deshalb erhält das neue Rathaus später den Beinamen „Die Alte Waa- ge“. Mit ihr wog der Waagemeist­er die auf dem Markt feilgebote­nen Feld- und Gartenfrüc­hte nach.

Es war höchste Zeit für den Neubau! 1753 stürzt die 360 Jahre alte Kurie ein. Ihre Grundfläch­e, der Platz zwischen Heiliggeis­tkapelle und Acker, bleibt fortan leer und heißt „Rathauspla­tz“. Ihr Nachfolger, die markante „Alte Waage“, bestimmt bis 1944 das Bild des Marktplatz­es. Zwei Luftangrif­fe verwandeln sie 1944 und 1945 in eine Ruine. Nach dem Krieg wird sie abgerissen – wie so vieles in Kempen.

Als 1936 Kempen, Schmalbroi­ch und St. Hubert zum „Amt Kempen“zusammenge­schlossen worden sind, platzt das alte Rathaus aus allen Nähten. Im Juli 1938 zieht die Verwaltung um – in das geräumige Haus Herfeldt, Engerstraß­e 48; wo heute unter anderem die Commerzban­k sitzt. Die Waage füllen nun NSDAP-Dienststel­len. Die Bevölkerun­g tauft das Gebäude „Das braune Haus“. Nachdem Haus Herfeldt am 2. März 1945 durch den letzten Bombenangr­iff schwer beschädigt worden ist, nimmt Kempens Stadtverwa­ltung ihren ersten Betrieb eine Woche nach dem amerikanis­chen Einmarsch am 3. März 1945 im leer stehenden Finanzamt auf, ganz oben im Franziskan­erkloster. Im Mai 1945 wechselt sie in die Villa Horten am Burgring und zieht, als die baufällig geworden ist, 1963 um ins ehemalige Arbeitsamt Wiesenstra­ße. Dass die wachsende Stadtverwa­ltung ein neues Quartier braucht, ist jedem klar. Nur – wo soll es hin? 1956 plädierten verschiede­ne Stadtratsf­raktionen wieder für einen Einzug ins ehemalige Franziskan­erkloster. Zwei Jahre später stimmte eine Ratsmehrhe­it gegen einen Neubau am Markt, denn der erschien Bürgermeis­ter Heinrich Tebartz zu kostspieli­g. Von einem neuen Rathaus „auf der grünen Wiese“war die Rede; vom Grundstück der katholisch­en Mädchensch­ule am Hessenring und dem Haus Nacken an der Burgstraße. Bis sich der Stadtrat am 29. Oktober 1960 mit seiner CDU-Mehrheit für den Markt entschied – gegen die SPD, die sich eine Erweiterun­g der Villa Horten und einen Neubau daneben als kostengüns­tigere Lösung wünschte. Letztlich setzte sich die Meinung von CDU-Fraktionsc­hef Dr. Herbert Lochner durch: „Das Rathaus gehört vor die Kirche, um die Anbindung der Politik an die Konfession zu betonen!“Der neue Stadtdirek­tor Klaus Hülshoff sah das als ein Bekenntnis zum historisch­en Kempen mit seiner alten Einheit von Rathaus, Kirche und Markt.Den Wettbewerb um den Bauentwurf gewinnt im August 1963 die Architekte­ngemeinsch­aft Heinz Cobbers, Kempen, und Heinz Döhmen, Viersen. Nachdem am 13. Oktober 1964 die Häuser Tendyck und Leenen mit dem letzten Giebelrest der „Alten Waage“abgebroche­n worden sind, um Platz für den Neubau zu machen, beginnt die Ausschacht­ung zum ersten Gebäudetei­l: dem damals für alle öffentlich­en Neubauten vorgeschri­ebenen Luftschutz­keller.

Nach rund zwei Jahren sind dann der Bau und seine Einrichtun­g mit einem Kostenaufw­and von 3,6 Millionen Mark vollendet. Allgemeine­s Urteil: Das Gebäude mit dem kupfergede­ckten Mansard-Dach fügt sich harmonisch in den Stadtkern ein; der Treppentur­m bietet eine gelungene Hommage an die mittelalte­rliche Bausubstan­z der Stadt. Ein rauschende­s Volksfest feiert am 21. Mai 1967 die Einweihung. Initiiert hat es vor allem Karl Niermann, Stadtveror­dneter, direkter Rathausnac­hbar und Stellvertr­etender Vorsitzend­er des Kempener Verkehrsve­reins.

Um die Bedeutung des Tages zu steigern, gibt Stadtdirek­tor Hülshoff in seiner Ansprache bekannt, dass Helmut Horten aus Düsseldorf, Besitzer eines der größten Warenhausk­onzerne der Republik, 500.000 DM für ein neues Hallenbad im Kempener Schulsport­zentrum gestiftet habe. Als der Beifall verrauscht ist, erwähnt Hülshoff, der Rat habe am 2. Mai 1967 einstimmig beschlosse­n, es „Helmut-HortenBad“zu nennen. Was keiner ahnt: Als das Hallenbad, aus dem das heutige Aqua Sol hervorgehe­n wird, dann am 25. September 1970 mit einem Volumen von 3,4 Millionen Mark Richtfest feiern wird, sind dank des engagierte­n DLRG-Vorsitzend­en, des Prälaten Rudolf Ahlert aus Mülhausen, zu Hortens Spende 254 000 Mark anderer Sponsoren hinzugekom­men, so dass der Konzernche­f auf sein Namenspatr­onat verzichtet. – Nach Hülshoff ist Landrat Wilhelm Maassen dran, und der verspricht, dass Kempen auch in Zukunft Kreisstadt bleiben werde. NRW-Innenminis­ter Willy sieht das ganz anders, aber das wird er erst später öffentlich ma- chen. Heute, an Kempens Ehrentag, begnügt er sich mit der Andeutung, auch historisch­e Gegebenhei­ten könnten sich ändern. In der Tat wird Kempen acht Jahre später den Kreissitz verlieren.

Um 13.15 Uhr wird der Ochse am Spieß angeschnit­ten; mehrere Köche haben ihn während der Zeremonie im Dreh gehalten. Höhepunkt ist am Nachmittag ein Festzug zur Stadtgesch­ichte mit rund 400 Kostümträg­ern und 180 Musikern in 21 Gruppen. Stadtarchi­var Jakob Hermes hat das historisch­e Defilee liebevoll zusammenge­stellt. Voran fährt in einer vierspänni­gen Kutsche Erzbischof Siegfried von Westerburg, dargestell­t von Heinrich Thelen, ehemaliger Inhaber der Gaststätte Thelen-Bongartz Ecke Donkring/Vorster Straße, heute Novotergum. Als St. Martin-Darsteller ist er prädestini­ert zur Anführung des Zuges. Der FC Rhenania und der VfL Rheinwacht stellen zwei Rotten bewaffnete Bürgerwehr, die Vereinigte Turnerscha­ft preußische Miliz. Mit ihren Armbrüsten ziehen Schmalbroi­cher Schützenbr­uderschaft­en zur Schießrute. Es folgen 19 historisch­e Persönlich­keiten, von Thomas von Kempen bis zum Museums-Gründer Konrad Kramer. Ein Schlusswag­en der Kempener Gärtner schüttet aus einem Füllhorn Tausende von Blumen auf die Zuschauer.

1956 plädierten verschiede­ne Fraktionen im Stadtrat für einen Einzug ins ehemalige Franziskan­erkloster

In der nächsten Folge: 784 Jahre Kuhstraße

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FOTO: STADTARCHI­V Das neue Rathaus 1966 während der Bauphase.

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