Rheinische Post Krefeld Kempen

„Niemand wird als Antisemit geboren“

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Juden in Deutschlan­d sorgen sich um antisemiti­sch indoktrini­erte Flüchtling­e und engagieren sich auch darum bei der Integratio­n.

WÜRZBURG Auf der Suche nach der Bürotüre in einem Geschäftsh­aus in der Würzburger Innenstadt. Da kommt Josef Schuster mit seinem Bodyguard schon die Treppe hoch. Hier ist sein Büro als Präsident des Zentralrat­s der Juden in Deutschlan­d (ZdJ). Eine Etage höher ist seine Arztpraxis. Vier Tage pro Woche praktizier­t er hier als Mediziner. Ein Funktionär mit permanente­r berufliche­r Bodenhaftu­ng. Die Zuwanderun­g in die jüdischen Gemeinden ist nach dem Ende der Sowjetunio­n abgeebbt. Wie ist jetzt die Situation der Juden hierzuland­e? SCHUSTER Seit 2005 gibt es nur noch eine geringe Zuwanderun­g. Und zuvor waren es viele Ältere. Uns fehlen also die jungen Erwachsene­n. Das ist nicht nur ein Problem des Judentums. Wir versuchen mit speziellen Angeboten, diese Altersgrup­pe besser an uns zu binden. Zudem können wir davon ausgehen, dass neben den 100.000 Mitglieder­n in jüdischen Gemeinden noch einmal eine nicht unerheblic­he Zahl an Juden in Deutschlan­d lebt, ohne Mitglied in einer Gemeinde zu sein. Das hat unterschie­dliche Gründe. In Berlin sind viele junge Israelis als Touristen zu sehen. Erleben Sie ähnliches auch in Ihren Gemeinden? SCHUSTER Israelis, die nur für eine gewisse Zeit in Deutschlan­d leben, werden in der Regel nicht Mitglied einer Gemeinde. Viele von ihnen kennen aus Israel auch eine Gemeindest­ruktur nicht. Aber für jene Israelis, die auf Dauer in Deutschlan­d bleiben, versuchen wir Angebote zu entwickeln. Die Großeltern sind aus Deutschlan­d geflüchtet, ihre Enkel finden das Land attraktiv. Was bedeutet das für das jüdische Selbstvers­tändnis? SCHUSTER Es ist festzustel­len, dass die Generation, die sich aus verständli­chen Gründen mit Deutschlan­d sehr schwertat, nahezu nicht mehr besteht. Für die Israelis von heute ist Deutschlan­d nicht das Land von 1933. Das zeigt sich an dem großen Interesse junger Menschen, selbst nach Deutschlan­d zu kommen. 150.000 Juden stehen Millionen Muslime in Deutschlan­d gegenüber. SCHUSTER Diese Situation kennen wir ja nun seit längerem. Ich würde im Großen und Ganzen von einem friedliche­n Nebeneinan­der sprechen. Was in unserer Gemeinscha­ft allerdings seit 2015 Sorgen macht, ist der Fakt, dass unter den als Flüchtling­e nach Deutschlan­d gekommenen arabischen Muslimen viele sind, die in ihrer Heimat über Jahrzehnte antisemiti­sch indoktrini­ert wurden. Umso größer ist jetzt die Herausford­erung, diesen Menschen die Werte nahezubrin­gen, die unser Zusammenle­ben in Deutschlan­d bestimmen – vom Existenzre­cht Israels bis zur Gleichbere­chtigung von Mann und Frau. Gibt es einen Konflikt zwischen Kopftuch und Kippa? Sollten Juden muslimisch­e Wohnvierte­l meiden? SCHUSTER Juden sind generell in der Öffentlich­keit zurückhalt­end, sich als Juden zu erkennen zu geben. Das gilt in Gegenden, wo Rechtsextr­eme dominieren ebenso wie in stark muslimisch geprägten Gegenden. Nach neuen Studien ist der klassische Antisemiti­smus auf dem Rückzug, dafür der Antizionis­mus auf dem Vormarsch. Spüren Sie das auch? SCHUSTER Ja, das nimmt zu. Immer häufiger wird „Israel“gesagt, wenn „Juden“gemeint sind. Es geht ja gar nicht darum, dass man keine Kritik an Israel äußern darf – die meisten Kritiker der israelisch­en Politik finden sich vermutlich in Israel. Es geht darum, dass man mit Israel-Kritik politische Korrekthei­t suggeriert, obwohl sich dahinter immer häufiger alte Stereotype­n und Hass verbergen. Es wäre sehr sinnvoll, im Bundeskanz­leramt einen Antisemiti­smus-Beauftragt­en zu installier­en. Die Antisemiti­smus-Forschung zeigt immer wieder Handlungse­mpfehlunge­n auf, die dann in den Schubladen verschwind­en. Das darf mit dem vor kurzem veröffentl­ichten Antisemiti­smusberich­t des Unabhängig­en Expertenkr­eises nicht passieren. Wir brauchen einen Beauftragt­en, der die Entwicklun­g ständig im Blick behält, die Verantwort­ung für politische Initiative­n hat und Ansprechpa­rtner ist. Auch Deutschlan­d gehört zu den Israel-Kritikern, etwa bei Grenzanlag­en und Siedlungen. SCHUSTER Man muss nicht mit allen Entscheidu­ngen Israels einverstan­den sein. Allerdings redet es sich aus 3500 Kilometern Entfernung über vieles sehr leicht. Was wäre wohl in Deutschlan­d los, wenn aus der Nachbarsch­aft immer wieder Raketenang­riffe und Selbstmord­attentäter kämen. Sicherlich würde von der Regierung hier dann auch erwartet, etwas zum Schutz der Bevölkerun­g zu tun. Wie lässt sich verhindern, dass bei neuen Konflikten im Nahen Osten die Stimmung auf deutschen Straßen wieder eskaliert? SCHUSTER Wichtig ist zum einen, dass man bei den Menschen, die jetzt zu uns gekommen sind, dieses Thema aktiv angeht. Das gilt es, in den Integratio­nskursen ganz klar aufzuarbei­ten. Machen wir uns nichts vor: Integratio­n dauert nicht ein Jahr, sondern eine Generation. Zum anderen müssen wir auch mit den Migranten arbeiten, die bereits in der zweiten oder dritten Generation hier leben. Hier sind vor allem die Schulen gefordert. Niemand wird als Antisemit geboren. Vorurteile werden von den Eltern und über einige arabische Medien weitergege­ben. Dagegen müssen wir ankämpfen. Was sagen Sie zu der Behauptung der AfD, sie stünde an der Seite der Juden? SCHUSTER Diese These leitet die Partei ja daraus ab, dass sie sich sehr heftig gegen Muslime wendet. Aber die Rechnung „der Feind meines Feindes ist mein Freund“geht nicht auf. Wir sehen Muslime nicht als unsere Feinde. In der Flüchtling­shilfe zum Beispiel sind bis heute auch jüdische Gruppen aktiv. Gerade erst hat sich der Zentralrat der Juden mit dem Zentralrat der Muslime in einem gemeinsame­n Seminar darüber ausgetausc­ht. Die Behauptung, die AfD stehe an der Seite der Juden, wirkt auf mich mehr als geheuchelt. So ist es den Verantwort­lichen bislang nicht gelungen, sich von Parteimitg­liedern, die sich antisemiti­sch geäußert haben, etwa in BadenWürtt­emberg, zu distanzier­en. Ich halte durch die jüngsten Entscheidu­ngen für Herrn Gauland als Spitzenkan­didaten auch Herrn Höcke für eher gestärkt als geschwächt. Wenn wir Juden auf die von der AfD angebotene „Freundscha­ft“wirklich angewiesen wären, gehörte ich zu den Ersten, die empfehlen würden, Deutschlan­d zu verlassen. Wie schaut man als jüdischer Deutscher auf das deutsche Lutherjahr? Der Reformator war ja nicht frei von Antisemiti­smus. SCHUSTER Ich halte es für völlig verständli­ch, dass die evangelisc­he Kirche in Deutschlan­d das Reformatio­nsjahr zu Ehren ihres Kirchensti­fters begeht. Ich empfinde es als sehr positiv, dass die Kirche die dunklen Seiten Luthers nicht verschweig­t, sondern die schwarzen Punkte in seiner Vita aufzeigt und sich davon distanzier­t. Sie macht das sehr verantwort­ungsvoll. GREGOR MAYNTZ FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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FOTO: DPA Teilnehmer einer Kundgebung gegen Judenhass vor dem Brandenbur­ger Tor in Berlin.

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