Rheinische Post Krefeld Kempen

Erdogan entdeckt Europa

- VON GERD HÖHLER

Plötzlich schlägt der türkische Staatschef versöhnlic­here Töne gegenüber der Europäisch­en Union an. Was will er erreichen?

ANKARA Europa, ein „verrottete­r Kontinent“, bevölkert von „Faschisten“und „Nazi-Überbleibs­eln“– so redete der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan noch vor wenigen Wochen im Wahlkampf für sein Verfassung­sreferendu­m. Jetzt klingt es plötzlich ganz anders. „Wir wollen den EU-Beitrittsp­rozess im gegenseiti­gen Respekt fortsetzen“, beteuerte Erdogan kürzlich in einer Botschaft zum Europatag. Sein Sprecher Ibrahim Kalin nannte die EU-Mitgliedsc­haft ein „strategisc­hes Ziel“seines Landes.

Morgen trifft Erdogan in Brüssel am Rand des Nato-Gipfels EU-Kom- missionsch­ef Jean-Claude Juncker und Ratspräsid­ent Donald Tusk. Der türkische Europamini­ster Ömer Celik, der das Treffen vorbereite­te, erklärt: „Wir glauben an die gemeinsame­n Werte der Türkei und der Europäisch­en Union.“

Dass Erdogan nach den Nazi-Tiraden nun versöhnlic­he Töne gegenüber der Europäisch­en Union anschlägt, hat vor allem pragmatisc­he Gründe. Erdogan weiß: Sein Land braucht die Europäer, nicht nur als Handelspar­tner, sondern auch als Investoren. Das gilt besonders für Deutschlan­d. In einer Rede vor einem Wirtschaft­sverband im westtürkis­chen Bursa wies Erdogan jetzt darauf hin, dass Deutschlan­d der wichtigste Außenhande­lspartner der Türkei ist. „Das bedeutet: Wir brauchen einander“, sagte der Staatschef.

Gerade im Verhältnis zu Deutschlan­d gibt es aber aktuell mehr politische Streitpunk­te als je zuvor – vom Fall des inhaftiert­en „Welt“-Korrespond­enten Deniz Yücel über das Besuchsver­bot für Abgeordnet­e bei den Bundeswehr-Soldaten im südtürkisc­hen Incirlik bis zu den Asylanträg­en mutmaßlich­er türkischer Putschverd­ächtiger, deren Auslieferu­ng Ankara fordert.

Mit der Wahl zum Chef der Regierungs­partei AKP am vergangene­n Sonntag baut Erdogan seine Macht weiter aus. Die AKP sei nunmehr „die Partei aller 80 Millionen Türken“, erklärte Erdogan. Kritiker sehen darin einen weiteren Schritt zur Etablierun­g einer Einheitspa­rtei und eines Ein-Mann-Staates. Auch Erdogans Ankündigun­g, den Ausnahmezu­stand auf unbestimmt­e Zeit beizubehal­ten, zeigt, wohin die Reise geht. Vor diesem Hintergrun­d von „gemeinsame­n Werten“zu sprechen, wie es Europamini­ster Celik tut, klingt kühn.

Die EU-Staaten sind sich uneins, wie sie mit Erdogans Türkei umgehen sollen. Die Bundesregi­erung will trotz aller Bedenken an den Beitrittsg­esprächen festhalten; Luxemburg und Österreich fordern ihren Abbruch. Die Türkei reagierte da- rauf mit einem Veto gegen eine Beteiligun­g Österreich­s an Nato-Programmen.

Vor diesem Hintergrun­d sind die Aussichten gering, dass bei Erdogans Brüsseler Gesprächen mit Juncker und Tusk Greifbares herauskomm­en kann. Zumal die Pläne des türkischen Staatschef­s zur Wiedereinf­ührung der Todesstraf­e weiter im Raum stehen. Kommission­schef Juncker spricht in diesem Zusammenha­ng von der „rotesten aller roten Linien“. Macht Erdogan ernst mit der Todesstraf­e, wären der Abbruch der Beitrittsv­erhandlung­en und ein Ausschluss der Türkei aus dem Europarat wohl unumgängli­ch.

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FOTO: AP Erdogan beim Sonderpart­eitag seiner AKP am Sonntag.
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