Rheinische Post Krefeld Kempen
Der wählerische Wähler
DÜSSELDORF Die Zeichen sind widersprüchlich: Während in NRW nach der Wahl CDU und Liberale mit hohen Erfolgsaussichten über eine Koalition verhandeln, die politische Front also weiter zwischen den gewohnten Blöcken verläuft, und SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz die Parole „Merkel oder ich“ausgerufen hat, erkundet der neue Staatspräsident in Frankreich, wie eine Regierung mit Mitgliedern aus unterschiedlichen politischen Lagern funktioniert. Dazu zeigen die Analysen der jüngsten Wahlen in Europa, dass traditionell linke Wählerschichten zu rechten Parteien abwandern, selbst wenn die etwa in Wirtschaftsfragen neoliberale Positionen vertreten, die den Interessen des „kleinen Mannes“kaum entsprechen.
Einerseits gibt es also eine Rückkehr zur alten Übersichtlichkeit mit linkem und rechtem Lager. Gleichzeitig schwindet jedoch die Bindung zwischen Parteien und ihren traditionellen sozialen Milieus. Menschen wechseln auch zwischen entgegengesetzten politischen Welten, und dabei geben Gefühle wie Unzufriedenheit oder Enttäuschung den Ausschlag, nicht mehr das Bewusstsein, einer bestimmten Klasse anzugehören.
Man kann das alles auf die Flüchtigkeit im modernen Leben schieben, auf die grassierende Unverbindlichkeit und allseits geforderte Flexibilität, die sich eben auch in der schwindenden Bindung an politische Ideen niederschlägt. Viele Menschen folgen nicht mehr üblichen Meinungsmustern, haben Patchwork-Überzeugungen, wollen Feministin sein, aber gegen Abtreibung, haben sich mit prekären Arbeitsverträgen arrangiert, fordern aber kürzere Arbeitszeiten. Und wenn sich die Parteien nicht flexibel zeigen, tun es die Wähler.
Man kann das für erfrischenden Pragmatismus und die Abkehr von überkommenen Ideologien halten. Der moderne Konsument möchte in allen Lebensbereichen Individualität beweisen, und so bindet er sich nicht mehr lebenslang an eine Partei, sondern reagiert auf aktuelle Ereignisse, Spitzenkandidaten, Befindlichkeiten. Doch genauso könnte die Abkehr vom Wahlverhalten nach klassischem Muster Beleg dafür sein, dass den Benachteiligten des wirtschaftlichen Systems das politische Bewusstsein abhanden kommt. Man könnte auch sagen, die Hoffnung darauf, etwas ändern zu können.
Das betrifft keineswegs eine einheitliche Gruppe, die man gemeinhin Globalisierungsverlierer nennt und mit Zuschreibungen wie Prekariat oder Ex-Arbeiterklasse zu fassen versucht. Es sind Menschen unterschiedlicher sozialer Schichten, Bildungsniveaus, Einkommensklassen, die sich gegen den enormen Wandel durch die Globalisierung zu wehren versuchen – weil er sie ihren Job gekostet hat oder weil sie in der Nachbarschaft keine Moschee sehen wollen.
„Da vermischen sich ökonomische Vorstellungen wie Angst vor Jobverlust mit gesellschaftspolitischen Ängsten etwa vor dem Einfluss anderer Kulturen“, sagt der Berliner Parteienforscher Oskar Niedermayer. Rechtspopulistische Bewegungen in ganz Europa antworteten genau auf diese Gemengelage. Parteien wie die AfD unterschieden nicht zwischen oben und unten wie die Linken, sondern zwischen drinnen und draußen, zwischen Altbürgern und Migranten. „Die Leute interessiert es weniger, ob der Mindestlohn um einen Euro steigt“, so Niedermayer, „sie wollen wissen, ob weiter eine Million Flüchtlinge zu uns kommt. Nicht nur aus ökonomischen, sondern aus gesellschaftspolitischen Gründen.“
Der französische Soziologe Didier Eribon, der selbst aus einer Arbeiterfamilie stammt, die früher die Kommunisten, heute den rechten Front National wählt, spricht von „entfremdeter Weltanschauung“. Viele Menschen hät-
„Wir wählen Parteien, weil wir in dem Weltbild, das sie vor Augen haben,
selbst vorkommen“
Didier Eribon
Französischer Soziologe