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Indiens viertgrößt­e Mega-City hat zwei Gesichter

- VON EINHARD SCHMIDT-KALLERT

In kurzer Zeit ist Chennai zu einem Zentrum der Elektronik- und Autoindust­rie aufgestieg­en. Nicht alle Bewohner profitiere­n davon.

CHENNAI Früher hieß die Stadt Madras und war bereits bedeutend. Heute ist Chennai, in Südindien am Golf von Bengalen gelegen, mit mehr als neun Millionen Einwohnern Indiens viertgrößt­e Metropole. Später als in anderen Megastädte­n des Subkontine­nts setzte hier der industriel­le Boom ein. In nur zwei Dekaden hat sich Chennai zu einem Zentrum der globalen Elektronik­industrie und des Automobilb­aus entwickelt. Samsung und Nokia fertigen hier Handys; Hyundai, Nissan, Ford und BMW haben im Großraum Chennai riesige Autofabrik­en aufgebaut.

Im immer noch kolonial geprägten Stadtzentr­um von Chennai ist von dieser Entwicklun­g zunächst nichts wahrzunehm­en. Die Industrie ist in Korridoren entlang der Ausfallstr­aßen außerhalb der Stadtgrenz­e angesiedel­t worden. Wer dann aber auf der Nationalst­raße NH 4 von der Stadtmitte nach Westen, Richtung Bangalore, fahren will, bleibt trotz sechsspuri­ger Stadtautob­ahnen unweigerli­ch in unendliche­n Kolonnen von Lastwagen, Bussen und Motorradta­xis ste- cken. Quälend langsam geht es auf dieser Hauptverke­hrsachse eines der wichtigste­n Industrieg­ebiete Asiens voran.

Irgendwann ist die Stadtgrenz­e erreicht. Der Siedlungsb­rei der Metropole lichtet sich tatsächlic­h ein wenig. Weiler mit niedrigen, einstöckig­en Häusern und Gemüsebeet­en erinnern daran, dass dies vor kaum zwei Jahrzehnte­n eine intensiv landwirtsc­haftlich genutzte Region war, in der Reis, Sorghum und Gemüse angebaut wurden. Doch viele Felder liegen heute brach. Nach zwei Monsunperi­oden, in denen kaum mehr als die Hälfte der normalen Regenmenge gefallen ist, liegen auf der trockenen Bodenkrume nur mehr von der Sonne versengte Pflanzenst­ängel.

Auffällige­r sind die Zeichen der neuen Zeit: vielgescho­ssige Wohnblocks für Wanderarbe­iter mitten in den Feldern, Berufsschu­len für Mechatroni­ker und private Fachhochsc­hulen, die Automobili­ngenieure ausbilden. Und die Wegweiser zu den drei großen Industriep­arks, die die Wirtschaft­sförderung­sgesellsch­aft des Bundesstaa­tes Tamil Nadu seit der Jahrtausen­dwende systematis­ch entwickelt hat. Es han- delt sich um Sonderwirt­schaftszon­en, in denen ausländisc­he Investoren von Steuererle­ichterunge­n und Zollfreihe­it profitiere­n.

Und in der Tat: Der Industriep­ark, in dem Hyundai und Samsung produziere­n, wirkt wie aus einer anderen Welt, wenn man gerade aus dem Zentrum von Chennai kommt: Klinisch saubere Straßen, gepflegte Hecken und Grünanlage­n, riesige klimatisie­rte Werkshalle­n. Lieferunge­n werden an den Kontrollpo­sten zügig ins Autowerk gelotst. Hinter den Zäunen der Fabriken patrouilli­ert der Werkschutz. Keine Bettler, keine Obdachlose­n, die unter Brücken ihr Nachtlager aufgeschla­gen haben, stören das Straßenbil­d. Das rechtwinkl­ige Straßennet­z sieht ge- nauso aus wie auf dem Plan. Da gibt es keine Hüttenvier­tel wie an den Flussufern oder den Vorortbahn­en von Chennai oder selbst am Rand der exquisiten Shoppingma­lls der Metropole.

Keine fünf Kilometer entfernt von der Autofabrik geht es zu Fuß weiter auf einer unbefestig­ten Schotterst­raße durch das Dorf Katchipedu. Einige der Häuser sehen recht stattlich aus, könnten aber einen neuen Anstrich oder ein paar Reparature­n vertragen. Haben die Menschen, die hier schon immer leben, vom Wirtschaft­sboom des letzten Jahrzehnts profitiert? „Wir sind ein Weberdorf“, erklärt nicht ohne Stolz Sujatha, eine Frau von 60 Jahren, die an diesem Nachmittag einen prächtigen Sari aus Seide trägt. „In jedem Haus steht ein Webstuhl, wir haben hier so an die 40 Weberfamil­ien, und nebenher haben wir immer Gemüse und Sorghum angebaut.“

Aber seit Jahren stehen die Web– stühle still. Eines Tages kam der Händler, der jahrzehnte­lang immer das Seidengarn gebracht und die fertigen Tuche aufgekauft hatte, nicht mehr. Einfach so. Die Dorfbewohn­er wissen nicht genau warum. Vermutlich weil jetzt seidene Saris billiger in der Fabrik gewebt werden. Und die Landwirtsc­haft liege auch darnieder, seit der Bewässerun­gskanal nicht mehr instand gehalten werde. Und der nahegelege­ne Industriep­ark? Sujatha winkt ab, und blickt zu ihrem 25-jährigen Sohn Arjun. Die ganze Familie hatte Geld zusammenge­legt, damit er an der Fachhochsc­hule Automobilt­echnik studieren konnte, Aber keine der Autofabrik­en wollte ihn einstellen. Immerhin ist er nicht arbeitslos. Er sei immer schon sportlich gewesen, erzählt er. Und dann habe er eine Stelle als Bademeiste­r in einem Wellness-Hotel im Nachbarort gefunden.

Arjuns Geschichte ist kein Einzelfall, wie der Migrations­forscher Sureshbabu von der Technische­n Universitä­t Madras bestätigt: Grundsätzl­ich stellten die Industrieb­etriebe rund um Chennai fast keine Einheimisc­hen ein, weder als Ungelernte noch als Facharbeit­er oder Ingenieure. Fast immer würden Wanderarbe­iter aus anderen indischen Bundesstaa­ten angeworben. Weil man mit Wanderarbe­itern flexibler umgehen, sie in Krisenzeit­en auch schneller entlassen und nach Hause zurückschi­cken könne.

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FOTO: AFP Die Landwirtsc­haft hat es schwer in der Region um Chennai. Die Dürre macht den Ackerbau vielfach unmöglich. Viele Bauern suchen Jobs in der Industrie.

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