Rheinische Post Krefeld Kempen

Bald läuft die dicke Cordula

- VON BIANCA TREFFER

Im ehemaligen Hengststal­l von Gut Heimendahl in Kempen wird ein altes Handwerk betrieben. Camilla Gräfin von Bernstorff stellt dort Posamenten her. Das sind Schmuckele­mente für Kleidung, Heimtextil­ien oder Polstermöb­el.

KEMPEN Wenn Camilla Gräfin von Bernstorff das große hölzerne Tor des Hengststal­ls von Gut Heimendahl aufschiebt und den Blick in die einstigen Stallungen freigibt, dann scheint es, als wäre die Zeit stehen geblieben. Kein Schnauben und Gewieher von Pferden in Boxen empfängt den Besucher. Der große Raum ohne Unterteilu­ngen, in dem nur noch die alten Kacheln an die frühere Nutzung erinnern, ist in eine historisch­e Posamentie­r-Werkstatt verwandelt worden.

Unterschie­dliche alte Textilmasc­hinen aus den 1950er- bis 1970erJahr­en sind hier zu sehen. Da gibt es die Tellerplat­tiermaschi­ne, zwei Spindelmas­chinen, zwei Jacquardwe­bstühle, drei Gallionenm­aschinen sowie je eine Spul- und Flechtmasc­hine. Regale voller Spulen in verschiede­nen Farben prägen das Bild. Auf den so genannten Läufern stecken kleinere Spulen aus Pappe, auf denen Garne in kräftigen Farben leuchten. An der Seitenwand ist ein langes Hakenbrett festgeschr­aubt, an dem künftig die Garne in Richtung der diversen Drehräder geführt werden.

„Hier entsteht meine kleine Reeperbahn“, sagt von Bernstorff und spielt damit auf die Reeperbahn in Hamburg an, wo früher die Schiffssei­le gedreht wurden. Reepen heißt nämlich nichts anderes als Drehen. Mit einem Lächeln zeigt die 24-Jährige auf eines der größeren Drehräder, die dafür benötigt werden. „Das ist die dicke Cordula. Meine Schwester hat ihr den Namen gegeben. Das Drehrad ist wirklich etwas Besonderes, denn der Vater von Franz Schubert hat es nach dem Krieg mit einem Ingenieur zusammen gebaut. Das gilt auch für die Tellerplat­tiermaschi­ne, die ebenfalls Marke Eigenbau ist“, erzählt von Bernstorff.

Franz Schubert spielt in ihrer berufliche­n Laufbahn die entscheide­nde Rolle, denn bei ihm entdeckte sie ihre Liebe zum Posamentie­rHandwerk. Eigentlich wollte die Meerbusche­rin Möbelresta­uratorin werden. Nach dem Abitur verbrachte sie ein Jahr im Ausland. Weil sie keine eine entspreche­nde Lehrstelle fand, absolviert­e sie unter anderem ein Praktikum bei einem Raumaussta­tter. Das begeistert­e die junge Frau und sie ergriff die Chance, dort die dreijährig­e Ausbildung zu absolviere­n. „Im dritten Lehrjahr, kurz vor meiner Prüfung, musste ich zu Franz Schubert in die Posamentie­rWerkstatt in Düsseldorf. Als ich das Rattern und Klackern der Maschinen im Hof hörte, wusste ich, dort erwartet mich etwas Gutes“, erinnert sich von Bernstorff. Sie war von dem alten Handwerk begeistert.

Für ihre eigene Prüfung kaufte sie in der Werkstatt später eine Borte und erfuhr, dass Schubert im August 2016 schließen wollte. Sie bat um ein Praktikum nach ihrer Prüfung zur Raumaussta­tterin. Schubert habe zuerst nicht gewollt, aber sie habe ihn überreden können, plaudert die 24-Jährige aus dem Nähkästche­n. Es sollten zwei Wochen werden, herausgeko­mmen ist ein halbes Jahr, in dem der Fachmann die junge Frau in die Geheimniss­e des fast ausgestorb­enen Handwerks einführte.

Seine Schließung verschob der Senior bis Ende 2016, dann war nichts mehr zu machen, weil der Mietvertra­g auslief. Inzwischen war klar, dass die frisch ausgebilde­te Raumaussta­tterin die Werkstatt übernehmen wollte. „Ich hatte sehr viel Glück, dass wir die Familie von Heimendahl kennen und Hannes von Heimendahl mir den ehemaligen Hengststal­l zur Verfügung stellen konnte. Der reicht vom Platz her für die großen Maschinen aus“, erzählt von Bernstorff.

Der Transport der Gerätschaf­ten von Düsseldorf nach Kempen war ein Abenteuer. Für die tonnenschw­eren Textilmasc­hinen wurde in Düsseldorf das Dach des Hauses abgedeckt, in dem sie im Obergescho­ss standen. Mit einem 30-Tonnen-Kran wurden die Maschinen dann aus dem Haus auf einem Schwertran­sporter verladen und danach zum Gut Heimendahl gefahren.

Alle Maschinen überstande­n den Transport gut und in Kürze, wenn von Bernstorff ihr Gewerbe angemeldet hat, soll die Arbeit starten. Dann entstehen im einstigen Hengststal­l Borten, Quasten, Seile, Bommel, Fransen, Zierknoten, Raff- halter, Troddeln oder Bänder – allesamt „hand made in Germany“. „Es werden individuel­le Anfertigun­gen sein, wobei ich aber auch Kollektion­en anfertigen werde, die ich entspreche­nd günstiger verkaufen kann“, berichtet Camilla Gräfin von Bernstorff. Was sie ganz besonders freut, ist die Tatsache, dass Experte Franz Schubert ihr weiterhin zur Seite stehen will, denn auch ihn lassen die Posamenten nicht los. Beide können es kaum erwarten, bis dass das Klappern und Rattern der Maschinen wieder zu hören ist.

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In einem großen Wandregal befinden sich viele Spulen mit Garnen in verschiede­nen Farben und Farbtönen. Camilla Gräfin von Bernsdorff bedient das große Drehrad.
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RP-FOTOS (2): KAISER Die gelernte Raumaussta­tterin an ihrem Arbeitstis­ch mit einer kunstvoll gedrehten Kordel samt Bommel zur Befestigun­g eines Vorhangsto­ffs.

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