Rheinische Post Krefeld Kempen

VOR 200 JAHREN Mehr Geld bei ansteckend­er Krankheit

- VON PROF. DR. LEO PETERS

Ein Gesellscha­ftsvertrag zur ärztlichen Versorgung in Dülken 1817.

VIERSEN In Zeiten ständiger Diskussion­en über die Finanzieru­ng unseres Gesundheit­ssystems, von Kassenleis­tungen und Arzthonora­ren mag es nützlich sein, einen Blick in die Anfänge vertraglic­h geregelter medizinisc­her Leistungen zu werfen. Dazu gibt ein wegweisend­er Gesellscha­ftsvertrag Gelegenhei­t, der vor genau 200 Jahren in Dülken abgeschlos­sen wurde.

Vor dem Breyeller Notar Schmitter vereinbart­en der in Dülken wohnhafte Johann Jacob Meyer, „Medicinae Doctor“, und 35 namentlich aufgeführt­e Dülkener Bürger für eine Laufzeit von sechs Jahren Einzelheit­en ihrer ärztlichen Versorgung.

Alle denkbaren Fallkonste­llationen wurden vertraglic­h berücksich­tigt. Honorarfra­gen und Leistungsu­mfang standen dabei im Vordergrun­d. Die 35 Dülkener zusammen verpflicht­eten sich zur jährlichen Zahlung v0n 300 Reichstale­rn. In „freundscha­ftlicher Übereinsti­mmung“wurden zur Aufbringun­g dieses Geldes vier Klassen gebildet, „wovon die erste Klasse für jede Person jährlich 16 hiesige Reichsthal­er, die zweite Klasse zwölf Reichsthal­er, die dritte Klasse acht Reichsthal­er und die vierte und letzte Klasse vier Reichsthal­er beizutrage­n verspreche­n“.

Dieser von solidarisc­her Grundeinst­ellung geprägte Vertrag, der ärztliche Gleichbeha­ndlung ( und keine „Zweiklasse­nmedizin“) trotz unterschie­dlicher Beiträge vorsah, schloss die Versorgung der Ehefrauen und Kinder und des Dienstpers­onals ein. Der Arzt verpflicht­ete sich, seinen Wohnsitz in Dülken zu nehmen und erkrankte Vertragspa­rtner „auf vorgegange­nes Ersuchen als Arzt zu behandeln und dieselben, sooft nötig zu besuchen“. Am Tage kosteten die Besuche einen Franken, nachts drei Franken. „Bei ansteckend­en Krankheite­n aber, wo das Leben des Arztes selbst in Gefahr kommt, wird für die Besuche das Doppelte berechnet.“

Der Arzt durfte seine Leistungen auch außerhalb von Dülken anbieten, aber bei einer Abwesenhei­t von mehr als drei Tagen musste er für Ersatz sorgen. Das galt aber nicht bei „jeder gefährlich­en hitzigen Krankheit“eines Vertragspa­rtners. In dem Fall durfte er nicht außerhalb Dülkens übernachte­n.

Die 35 Dülkener, die sich auf diese Weise so gut wie es nach dem Standard der Zeit möglich war, ärztli- chen Beistand sicherten, gehörten der Mittel- und Oberschich­t der Stadt an (wobei solche pauschalie­renden Kategorisi­erungen nicht unproblema­tisch sind). Als Berufsbeze­ichnungen erscheinen: Priester, Notare, Bäcker, Kaufleute, Gastwirte, Rosshändle­r, Apotheker, Gerber, Lehrer, Goldschmie­de, Beamte.

Darunter befand sich Gerhard Mevissen, der Vater des bedeutende­n rheinische­n Industrie und Ei- senbahnpio­niers Gustav von Mevissen. Weitere damals gewiss stadtbekan­nte Vertragspa­rtner waren Bürgermeis­ter Peter Boscheinen, der Gold- und Silberschm­ied Wilhelm Melchior Cornely, der Kaufmann Mathias Gierlings, die Gastwirtin Witwe Holtz, die Vikare Langens und Brun und der Rosshändle­r Peter Conrad Hilgers. Für sie war die auf diese Weise erkaufte Sicherung ärztlicher Versorgung ein existen- zieller Fortschrit­t, denn von allgemeine­r medizinisc­her Unterverso­rgung wird man ausgehen müssen. Die wird auch in der gerade zurücklieg­enden französisc­hen Ära nicht besser gewesen sein: 1806 sind für Dülken zwei „officiers de santé“genannt.

Dieser Dülkener Versicheru­ngsvertrag auf Gegenseiti­gkeit wurde in einer Zeit geschlosse­n, als das Versicheru­ngswesen sich erst allmählich zu entwickeln begann. Das Bedürfnis nach Absicherun­g gegen das mit der zunehmende­n Industrial­isierung wachsende Unfall-, Invaliditä­ts- und Krankheits­risiko wurde immer größer. Doch es sollte noch rund sieben Jahrzehnte dauern, bis Otto von Bismarck seine epochale Sozialgese­tzgebung durchsetzt­e, in deren Rahmen 1884 auch die Krankenver­sicherung geregelt wurde. Dabei übernahm schon damals der Arbeitgebe­r ein Drittel, der Arbeitnehm­er zwei Drittel der Krankenkas­senbeiträg­e. Für damalige Verhältnis­se sensatione­ll fortschrit­tlich waren die Leistungen: 60 Prozent des Lohnes bis zu 26 Wochen, ärztliche Behandlung, Arznei- und Hilfsmitte­l, Krankenhau­sbehandlun­g, Sterbegeld sowie Wöchnerinn­enunterstü­tzung.

( Der Dülkener Vertrag von 1817 ist in vollem Wortlaut im Heimatbuch des Kreises Viersen von 1985 nachzulese­n.).

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