Rheinische Post Krefeld Kempen

Die Anti-Frust-Rede

- VON KIRSTEN BIALDIGA

Michael Groschek müht sich nach der historisch­en Wahlnieder­lage als neuer Chef der NRW-SPD, den Genossen Selbstwert zurückzuge­ben.

DUISBURG Als Michael Groschek ungefähr eine halbe Stunde geredet hat, da kommt er auf seine Kindheit in Oberhausen zu sprechen. In einer Bergarbeit­ersiedlung sei er aufgewachs­en, erzählt der künftige SPDParteic­hef in NRW. Der Nachbar sei wegen der Arbeit im Bergwerk mit einer Staublunge als 60-Jähriger aufs Altenteil geschickt worden. Keine drei Treppenstu­fen habe er mehr steigen können. Seine Zeit habe der Nachbar damit verbracht, auf ein Kissen gestützt aus dem Fenster zu schauen. Eines Tages war der Nachbar dann nicht mehr da, eben „weg vom Fenster“– daher das Sprichwort. Und dann schlägt Groschek den Bogen zur Gegenwart: „Heute sind wir wieder gefordert – oder glaubt ihr im Ernst, dass ein KickerAuto­mat im Pausenraum Ersatz für faire Arbeitsbed­ingungen ist?“

Groschek muss auf dem Sonderpart­eitag beinahe Unmögliche­s leisten. Nach der historisch­en Wahlnieder­lage muss er die NRW-SPD aus der Depression holen, er muss ihr Selbstwert und Sinn zurückgebe­n. Die Zornigen und die Verärgerte­n muss er in die neue Opposition­srolle mitnehmen, ebenso wie die Verzagten und die Enttäuscht­en.

Und das ist noch nicht alles: Der Bundestags­wahlkampf geht demnächst in die heiße Phase. Wenn SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz noch eine Chance haben will, dann braucht er die Unterstütz­ung des mitglieder­stärksten SPDLandesv­erbandes. An Groschek ist es an diesem Samstagmit­tag in Duisburg also auch, so kurz nach dem Wahldebake­l die 440 Delegierte­n erneut zu großen Anstrengun­gen zu motivieren.

Der 60-Jährige versucht es mit Demut. Er beginnt mit einem Schuldeing­eständnis: „Die Land- tagswahl wurde nicht bei Euch vor Ort, sondern auf Landeseben­e verloren.“Stellvertr­etend für die Führungssp­itze und das Kabinett entschuldi­ge er sich dafür: „Wir haben die Karre vor die Wand gefahren, weil wir uns zu sicher waren“, gesteht er. Sie hätten nicht geglaubt, dass CDU-Gegenkandi­dat Armin Laschet Hannelore Kraft schlagen könnte.

Im Saal wird es still. Wütend zu sein ist schwierige­r, wenn einer Fehler zugibt. Zu viel Schwäche zu zeigen, ist aber auch kein Ausweis von Führungsst­ärke. Und so schaltet Groschek schnell wieder um: „Wir werden alles tun, damit wir nicht arm und klein in Nordrhein-Westfalen wandern müssen, sondern sagen können: Wir sind die stolze, gerupfte, angeschlag­ene, aber nicht niedergesc­hlagene NRW-SPD“, gibt er vor und fordert: „Wir brauchen einen Neuanfang, der sich gewaschen hat.“Zugleich verspricht er, die Basis künftig besser einzubinde­n, etwa in Zukunftswe­rkstätten.

Groschek bemüht sich, Kraft in seine Worte zu legen. Die lauten Töne beherrscht er ohnehin besser als die leisen. Doch um den geschlagen­en Genossen ihren Stolz wiederzuge­ben, braucht es mehr: „Sozialdemo­kraten waren nie Täter, sondern Opfer“, ruft er die über 150jährige Geschichte in Erinnerung. An ihren Händen habe nie Blut geklebt, sie hätten nie den Namen ändern müssen wie andere Parteien.

Applaus brandet auf, er hat den Saal. Energisch fährt Groschek fort, jetzt kann er auch unbequeme Wahrheiten ausspreche­n. Zum Beispiel, dass die AfD gerade auch in klassische­n SPD-Hochburgen stark war: „Wir werden nicht mehr als sozial nahestehen­d begriffen, sondern als ,die da oben’“. Mit Klischees wie NRW als dem „Herzkammer-Stammland“müsse Schluss sein: „Alles Pustekuche­n – weg damit.“

Und er kann darüber reden, dass die Partei die ungeliebte Opposition­srolle jetzt ernst nehmen muss und welche Themen es zu beackern gilt: „Opposition ist Pflicht“, widerspric­ht er Franz Münteferin­gs „Opposition ist Mist“. Ganz am Anfang seiner Rede, da hatte er schon einmal eine Kostprobe gegeben. Da hatte er den Plan von Schwarz-Gelb kritisiert, Nicht-EU-Ausländern Studiengeb­ühren abzuverlan­gen: „Das ist eine Murks-Maut im Bildungssy­stem.“Immer wieder erwähnt er dabei die großen Leistungen der SPD-Bürgermeis­ter im Land, auch sie braucht Groschek.

Die Rede kommt bei vielen Genossen gut an. Die Parteifreu­nde erheben sich, applaudier­en. Doch in der anschließe­nden Debatte wird schnell klar, dass es so einfach doch nicht ist. Es hagelt Kritik, dass die für die Wahlnieder­lage Mit-Verantwort­lichen in der Führungssp­itze bleiben. Am Ende erhält Groschek nur 85,8 Prozent der Stimmen. Verzeihen und Vertrauen sind eben zweierlei.

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