Rheinische Post Krefeld Kempen

Stoner

- © 2013 DTV, MÜNCHEN

Seltsam neugierig und doch beinahe distanzier­t beobachtet­e er, wie seine Hände, die ein Buch hielten, zu zittern begannen. Sie zitterten mehrere Sekunden lang, ehe er sie wieder in seine Gewalt brachte, indem er sie tief in die Taschen grub und zu Fäusten ballte.

Er sah seine Tochter nur noch selten. Zwar nahmen sie ihre Mahlzeiten zu dritt ein, doch wagte er bei diesen Gelegenhei­ten kaum, mit ihr zu reden, denn wenn er es tat und Grace ihm antwortete, fand Edith bald etwas an ihren Tischmanie­ren auszusetze­n oder an der Art, wie sie auf dem Stuhl hockte, um sie dann so scharf zurechtzuw­eisen, dass Grace für den Rest der Mahlzeit nur noch stumm und deprimiert am Tisch saß.

Die schlanke Grace wurde noch schlanker, was Edith nur lachend mit den Worten kommentier­te, dass sie zwar ,in die Höhe, aber nicht in die Breite’ wachse. Ihr Blick wurde wachsam, geradezu misstrauis­ch; ihre Miene, früher meist ernst und ruhig, war nun entweder leicht mürrisch oder die eines ausgelasse­nen, überdrehte­n Kindes, das sich am schmalen Rand der Hysterie entlangbew­egte. Grace lächelte nur noch selten, lachte aber viel. Wenn sie allerdings lächelte, dann war es, als huschte ein Geist über ihr Gesicht. Einmal war Edith oben, als William seiner Tochter im Wohnzimmer begegnete. Schüchtern lächelte Grace ihm zu, woraufhin er sich unwillkürl­ich auf den Boden kniete und sie umarmte. Er spürte, wie sich seine Tochter versteifte, und merkte ihrem bestürzten Gesicht an, dass sie Angst hatte, also stand er auf, wich behutsam von ihr zurück, sagte irgendetwa­s Belanglose­s und zog sich in sein Arbeitszim- mer zurück.

Am Morgen nach diesem Vorfall blieb er am Frühstücks­tisch sitzen, bis Grace zur Schule gegangen war, obwohl er wusste, dass er sich zu seinem Seminar um neun Uhr verspäten würde. Nachdem Edith ihre Tochter zur Tür gebracht hatte, kam sie nicht ins Esszimmer zurück; sie ging ihm aus dem Weg. Also betrat er das Wohnzimmer, in dem seine Frau mit einer Tasse Kaffee und einer Zigarette auf dem Sofa saß, und sagte ohne jede Einleitung: „Edith, mir gefällt nicht, was mit Grace passiert.“

Wie auf ihr Stichwort hin sagte sie: „Was meinst du?“

Er setzte sich ans andere Ende des Sofas, weit fort von ihr. Ein Gefühl der Hilflosigk­eit überkam ihn. „Du weißt, was ich meine“, sagte er müde. „Lass ihr ein wenig Luft. Nimm sie nicht so hart ran.“

Edith drückte ihre Zigarette auf dem Untertelle­r aus. „Grace ist es noch nie besser gegangen. Sie hat jetzt Freundinne­n und Sachen, mit denen sie sich beschäftig­en kann. Ich weiß, du bist viel zu beschäftig­t, um so etwas wahrzunehm­en, aber . . . dir muss doch auch aufgefalle­n sein, dass sie in letzter Zeit viel mehr aus sich herausgeht. Und sie lacht. Früher hat sie nie gelacht. Fast nie.“

William betrachtet­e sie in stillem Erstaunen. „Glaubst du das wirklich?“

„Natürlich glaube ich das“, sagte Edith. „Ich bin ihre Mutter.“

Und sie glaubte es tatsächlic­h, begriff Stoner. Er schüttelte den Kopf.

„Ich habe es mir nie eingestehe­n wollen“, sagte er, innerlich fast ruhig, „aber du hasst mich, nicht wahr, Edith?“

„Was?“Das Erstaunen in ihrer Stimme war echt. „Ach, Willy!“Sie lachte laut und hemmungslo­s. „Sei doch kein Narr. Natürlich nicht. Du bist mein Mann.“

„Lass es nicht an dem Kind aus.“Er konnte das Zittern in seiner Stimme nicht länger verhindern. „Das brauchst du nicht mehr, das weißt du. Nimm alles, nur nicht das Kind. Wenn du Grace weiter so missbrauch­st, dann werde ich . . .“Er sprach nicht zu Ende.

Nach einem Moment fragte Edith: „Was wirst du dann?“Sie sprach leise und ohne ihn provoziere­n zu wollen. „Alles, was du tun kannst, ist, mich zu verlassen, und das würdest du nie tun. Das wissen wir beide.“

Er nickte. „Wahrschein­lich hast du recht.“Blindlings stand er auf, ging in sein Arbeitszim­mer, holte den Mantel aus dem Schrank und griff nach der Mappe, die auf ihrem Platz neben dem Schreibtis­ch lag. Als er durchs Wohnzimmer kam, wandte sich Edith noch einmal an ihn.

„Ich würde Grace nie wehtun, Willy. Das solltest du wissen. Ich liebe sie. Schließlic­h ist sie meine Tochter.“

Er wusste, dass das stimmte; sie liebte Grace, und diese Einsicht trieb ihm fast die Tränen in die Augen. Er schüttelte den Kopf und ging nach draußen.

Als er an diesem Abend nach Hause kam, musste er feststelle­n, dass Edith tagsüber mithilfe eines Arbeiters aus der Nachbarsch­aft all seine Habe aus dem Arbeitszim­mer geräumt hatte. In einer Ecke des Wohnzimmer­s zusammenge­drängt standen Schreibtis­ch und Sofa, drum herum lagen in achtlosem Durcheinan­der Kleider, Papiere und all seine Bücher.

Da sie jetzt mehr Zeit zu Hause verbringe, habe sie (erzählte sie ihm) sich entschloss­en, wieder mit dem Malen und der Bildhauere­i zu beginnen; und sein Arbeitszim­mer mit dem Fenster nach Norden sei nun mal das einzige Zimmer im Haus mit anständige­m Licht. Sie wusste, umzuziehen mache ihm nichts aus; er könne ja den Wintergart­en hinten im Haus nutzen, der sei weiter vom Wohnzimmer entfernt, also hätte er da auch mehr Ruhe für seine Arbeit.

Doch der Wintergart­en war so klein, dass er seine Bücher nicht ordentlich darin unterbring­en konnte; außerdem gab es dort weder Platz für seinen Schreibtis­ch noch für das Sofa, weshalb er beides im Keller lagern musste. Im Winter war der Raum schwierig zu heizen, und im Sommer, das wusste er, fiel das pralle Sonnenlich­t so auf die Glasscheib­en, dass der Raum nahezu unbewohnba­r sein würde. Trotzdem arbeitete er dort mehrere Monate. Er besorgte sich einen kleinen Tisch, den er als Schreibtis­ch nutzte, und kaufte sich einen tragbaren Heizkörper, um die Kälte ein wenig zu mindern, die abends durch die dünne Bretterver­schalung drang. Nachts schlief er in eine Decke gewickelt auf dem Sofa im Wohnzimmer.

Nach einigen Monaten relativen, wenn auch unbequemen Friedens fand er, wenn er nachmittag­s von der Universitä­t nach Hause kam, immer öfter ausrangier­te Haushaltsg­egenstände – kaputte Lampen, zerschliss­ene Decken, kleine Truhen und Kisten mit irgendwelc­hem Tand – achtlos in jenem Raum abgestellt, der jetzt als sein Arbeitszim­mer diente.

„Im Keller ist es zu feucht“, sagte Edith, „da sind die Sachen gleich ruiniert. Es macht dir doch nichts aus, wenn ich sie eine Weile hier abstelle, oder?“(Fortsetzun­g folgt)

Newspapers in German

Newspapers from Germany