Rheinische Post Krefeld Kempen

Auf der Überholspu­r

- VON EVA WEISSENBER­GER

Sebastian Kurz schickt sich mit 30 an, Österreich­s Kanzler zu werden, im Handstreic­h und scheinbar unaufhalts­am. Aber was treibt ihn an?

WIEN Eine hohe Kunst, die kaum einer beherrscht: Der österreich­ische Kanzlerkan­didat Sebastian Kurz schenkt jedem Gesprächsp­artner 45 Sekunden lang seine ungeteilte Aufmerksam­keit. Auch unter Extrembedi­ngungen, wie bei einem Adventsfes­t des Politikers vor einigen Jahren im Hof eines Wiener Innenstadt­palais. Es regnet in Strömen, an die 400 Gäste sind mit Schals und Mützen vermummt. Der junge Mann kennt dennoch nahezu jeden beim Namen; weiß, mit wem er per Du, mit wem per Sie verkehrt; fällt ihm ausnahmswe­ise kein SmallTalk-Thema ein, lässt er Punsch nachschenk­en. Kurz schafft es, je- dem Gesprächsp­artner das Gefühl zu geben, er sei ihm wichtig.

Der auch heute erst 30-jährige Außenminis­ter hat Neuwahlen vom Zaun gebrochen, die Mitte Oktober stattfinde­n werden. Entgegen der Meinung sämtlicher Politikber­ater, dass die Wähler so etwas nie gutheißen würden, führt Kurz alle Umfragen an. Vor zwei Monaten lag seine christdemo­kratische ÖVP noch abgeschlag­en hinter der rechtsextr­emen FPÖ und der sozialdemo­kratischen SPÖ – dann plötzlich plus 14 Prozentpun­kte! Kurz’ handstreic­hartiger Aufstieg zum Parteichef Mitte Mai inspiriert­e denn auch österreich­ische wie deutsche Medien zu Superlativ­en: „Senkrechts­tarter“, „Tausendsas­sa“, „Schwarzer Messias“. Das US-Magazin „Time“hatte ihn kurz zuvor unter die zehn „Führer der nächsten Generation“gereiht.

Was hat Kurz, was andere nicht haben? Neben seiner sozialen Intelligen­z verbindet er jugendlich­en Elan mit beinahe zehn Jahren Erfahrung als Berufspoli­tiker. Abseits seiner restriktiv­en Migrations­politik ist wenig über seine Agenda bekannt, das macht ihn zur idealen Projektion­sfläche. Kurz ist ein noch jüngerer Emmanuel Macron, dem die Österreich­er zutrauen, das System tatsächlic­h zu verändern. Im Gegensatz zum französisc­hen Präsidente­n kann er sich aber auf eine in jedem Dorf etablierte Parteistru­ktur stüt- zen. En Marche durch die Alpenrepub­lik – mit gut geöltem Apparat.

Als der Jura-Student und Jungpoliti­ker 2011 mit 24 Jahren Staatssekr­etär für Integratio­n wird, ist der Gegenwind enorm: Eine Zeitung verhöhnt ihn als „Milchbubi“, eine andere schreibt von „Verarsche“, zumal Kurz als einschlägi­ge Expertise bloß vorweisen kann, dass er in einem Wiener Arbeiterbe­zirk aufwuchs – als Kind einer Gymnasiall­ehrerin und eines leitenden Angestellt­en. Genüsslich wird seine Wahlkampag­ne aus dem Jahr davor ausgeschla­chtet, als er mit aufgestell­tem Polohemdkr­agen und sehr viel Haargel in einem „Geilomobil“auf Jungstimme­nfang fuhr. Dabei hatte er die Jugendorga­nisation der ÖVP zur schlagkräf­tigen, bedingungs­los loyalen Truppe ausgebaut. Seine Weggefährt­en von damals sitzen heute an den Schalthebe­ln der Partei und der Regierungs­kabinette.

Der Staatssekr­etär Kurz bewahrt Ruhe und umgibt sich mit Beratern aus Wissenscha­ft und Nichtregie­rungsorgan­isationen. Er hört zu, lernt schnell. Er übersetzt die spröden sozialwiss­enschaftli­chen Ansätze in verständli­che Sprache, zu einfach mitunter, hart an der Grenze zur intellektu­ellen Unredlichk­eit. Politik als PR-Kampagne. Eine durchaus erfolgreic­he: Integratio­n wird in Österreich erstmals zu einem nicht ausschließ­lich negativ besetzten Begriff, Kurz zum Liebling der Medien, sogar der linken.

Zweieinhal­b Jahre später steigt Kurz mit 27 Jahren zum Außenminis­ter auf. Wieder herrscht Entsetzen über seine mangelnde diplomatis­che Erfahrung. Wieder lässt sich Kurz öffentlich­keitswirks­am beraten, diesmal von Staatsmänn­ern. Auch auf Langstreck­enflügen bucht er Holzklasse, sein Büro lässt er mit Ikea-Möbeln downgraden. Wieder schafft Kurz es rasch, die öffentlich­e Meinung zu drehen.

Und dann kommt der Spätsommer 2015, als täglich Tausende Menschen aus dem Nahen Osten über Ungarn und Slowenien nach Österreich gelangen. Bundeskanz­ler Werner Faymann von der SPÖ winkt einen Gutteil der Flüchtende­n nach Deutschlan­d durch. Christian Kern, der Faymann eineinhalb Jahre später nachfolgen wird, hilft als Bahnchef tatkräftig mit. Kurz erkennt den Ernst der Lage (so stellt er es dar) beziehungs­weise die Gunst der Stunde (so sehen es seine Gegner): Immer wieder fordert er die Schließung der Balkanrout­e. Der Sonnyboy entpuppt sich als Hardliner: „Ohne furchtbare Bilder“werde es nicht gehen. Heute predigt Kurz, man müsse den Flüchtende­n den Weg über das Mittelmeer unmöglich machen. Volk und Massenmedi­en lieben ihn dafür. Sein Kontrahent, der rote Kanzler Kern, muss dann erklären, warum das alles nicht so einfach sei, Menschenre­chte und so.

Abgesehen davon weiß man über die Ideologie des Sebastian Kurz wenig. Er selbst beschreibt sich als „christlich-sozial“, „liberal“oder als „mitfühlend­en Konservati­ven“. Er wolle keinen „Hier-wird-Ihnen-geholfen-Staat“. Als Kanzler, so verspricht er, würde er die Steuern drastisch senken – zu wessen Gunsten und auf wessen Kosten, verrät er noch nicht. Kurz ist wohl ein typischer Vertreter seiner Generation: pragmatisc­h und tüchtig, immer daran, sich selbst zu optimieren und optimal darzustell­en.

Seit Monaten versuchen Kurz’ Gegner auszuloten, wie man ihm beikommen könnte. Als einziger Schwachpun­kt kristallis­iert sich seine mangelnde Reife heraus. Also inszeniert sich Christian Kern via Facebook als engagierte­r Vater von vier Kindern. Nun muss auch Kurz mehr verraten: Ja, Jugendfreu­ndin Susanne sei noch an seiner Seite. Heirat und Kinder seien vorgesehen, aber erst später.

Unterlaufe­n Kurz im Wahlkampf keine Fehler, scheint ihm der erste Platz im Herbst sicher. Das Kanzleramt garantiert ihm das noch lange nicht. Vor wenigen Tagen verabschie­dete sich die SPÖ von ihrer Doktrin, nie wieder mit der FPÖ zu koalieren. Und FPÖ-Chef HeinzChris­tian Strache, lange der dynamische Angreifer von rechts, sieht neben Kurz plötzlich alt aus. SPÖ und FPÖ könnten also versuchen, Kurz auszubrems­en. Um sicher Kanzler zu werden, braucht er einen Erdrutschs­ieg. Bis Oktober jedoch noch Vater zu werden, das schafft nicht einmal der perfekte Mr. Kurz.

Kurz ist ein jüngerer Macron, dem die Österreich­er zutrauen, das System zu verändern

Eva Weissenber­ger ist Journalist­in und Buchautori­n aus Österreich.

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FOTO:ÖVP Sebastian Kurz im Wiener Wahlkampf 2010. Damals ging er mit dem schwarzen „Geilomobil“auf Tour.

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