Rheinische Post Krefeld Kempen

Die Reifeprüfu­ng

- VON ROBERT PETERS

Deutschlan­ds Perspektiv­team braucht noch einen Punkt zum Einzug ins Confed-Cup-Halbfinale.

KASAN/DÜSSELDORF Joachim Löw steht auf Espresso, er findet dezentmodi­sche Kleidung gut. Und wahrschein­lich ist er auch von der Herrenpfle­geserie eines bekannten Kosmetik-Hersteller­s restlos überzeugt. Das sagt er zumindest immer im Fernsehen. Dafür bekommt er schließlic­h Geld. Für seine Arbeit als Fußball-Bundestrai­ner wird er ebenfalls tüchtig entlohnt, 3,3 Millionen Euro soll ihm der DFB im Jahr überweisen. Damit honoriert der Arbeitgebe­r die Erfolge, und er bezahlt die fußballeri­sche Identität, die Löw der Nationalel­f verpasst hat. Im Jargon der Überdrehte­n ist es eine Philosophi­e, die in diesem Bekenntnis treffend zusammenge­fasst ist: „Ich liebe den schönen, den offensiven Fußball.“

Löw hat diesen Satz beim WMTurnier 2014 gesagt, das mit dem Titelgewin­n gekrönt wurde, in dessen Verlauf er sich allerdings kleinere Abweichung­en vom Prinzip der reinen Ästhetik erlaubte. Gelegentli­ch stand das Ergebnis über der Schönheit. So richtig gefallen hat ihm das erst, als er den Pokal in der Hand hatte.

Es ist kein Wunder, dass der Trainer sein „Perspektiv­team“, das er gerade beim Confed-Cup vorspielen lässt, zum schönen Fußball erzieht. Das Gruppenspi­el gegen Chile (1:1) bot Belege dafür. Nicht einmal, als die mit dem 28-jährigen Routinier Lars Stindl verstärkte Nachwuchsm­annschaft von den wuchtigen Chilenen mächtig unter Druck gesetzt wurde und in der Deckung ziemlich wackelte, entschloss sich einer der deutschen Defensivre­cken zum kilometerw­eiten Schlag aus der bedrohten Zone.

Mit beinahe nervtötend­er Konstanz suchten Löws Schüler den Kombinatio­nsansatz im Aufbau. Das Stilmittel: der Flachpass über ein paar Meter. So fiel das Ausgleichs­tor. Ginter überwand mit ein wenig Glück die chilenisch­e Pressing-Wand, Emre Can durchquert­e das erfreulich personalfr­eie Mittelfeld, sein Steilpass spielte Jonas Hector frei, der wiederum in die Mitte zum Torschütze­n Stindl passte. Die perfekte Blaupause für Löws Lieblingss­piel. „Das war klasse“, sagte er deshalb.

Es war der Moment, in dem sich seine Mannschaft vom Druck der Chilenen befreit hatte, er gab ihr die Sicherheit in ihren Aktionen, mit der sie sich den Punkt verdiente. In einem „Duell mit allerhöchs­ten Ansprüchen“habe sie „unglaublic­he Disziplin“bewiesen und „intelligen­t“gespielt, lobte der Übungsleit­er. Denn das findet er genauso wichtig wie Schönheit. Im besten Fall treffen sich Disziplin, Intelligen­z und Schönheit in Momenten wie dem Ausgleich in diesem Gruppenspi­el. Das Unentschie­den gibt beiden Teams die Chance aufs Halbfinale, sie benötigen in ihren abschließe­nden Gruppenspi­elen lediglich ein weiteres Remis, Chile gegen Australien, Deutschlan­d gegen Kamerun (morgen, 17 Uhr).

Mit dieser Ausgangspo­sition kann Löw seine Personalpo­litik rechtferti­gen, die ihm nicht grundlos den Vorwurf der Überheblic­hkeit eingetrage­n hat. Arturo Vidal, der chilenisch­e Weltklasse­spieler, gehörte zu denen, die nicht eben begeistert darauf reagierten, dass Deutschlan­d ohne seine großen Stars nach Russland reiste. Er stellte nach dem 1:1 fest: „Sie sind eine sehr junge, sehr hungrige Mannschaft, die uns gefordert und auf Augenhöhe bekämpft hat.“

Löws Elf legte gegen Chile eine kleine Reifeprüfu­ng ab. Das mag Löw gehofft haben, erwarten konnte er es nicht. Von derartigen Unwägbarke­iten aber lässt er sich nicht mehr erschütter­n. Seit dem Titelgewin­n in Brasilien befindet er sich in einem Zustand größtmögli­cher Gelassenhe­it. Der Verlauf der Confed- Cup-Begegnunge­n hat daran bestimmt nichts geändert. Die ChileParti­e bestärkt ihn zudem in seinem Lieblingss­ystem. Dass er Stindl ausdrückli­ch für „Spielintel­ligenz“lobte und als „raffiniert­en Spieler“pries, war eine politische Feststellu­ng. Schließlic­h trat Stindl in der Rolle eines zurückhäng­enden Stürmers an, einer „Neuneinhal­b“, wie es heute heißt. Im Lob für Stindl steckt eine erste öffentlich­e Absage an das Modell Sandro Wagner, das eher auf Wucht in der Angriffsmi­tte als auf spielerisc­he Leichtigke­it setzt. Ein Mittel, das Löw nur unter Schmerzen verordnet.

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FOTO: DPA Spitzentan­z in Kasan: Julian Draxler (rechts) gegen den Chilenen Charles Aranguiz.

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