Rheinische Post Krefeld Kempen

WOCHENENDE 24./25. JUNI 2017

- FOTO: ANNE ORTHEN

ßer, „wir wollen es bequemer haben, damit wir möglichst lange unabhängig leben können.“Er schaut in den Garten. „Ich weiß, dass das gut sein wird.“

Loslassen, aufgeben, überschaub­ar machen – viele Menschen fürchten den Moment im Leben, da sie einen Teil ihres Alltags hinter sich lassen und sich von Dingen und Räumlichke­iten trennen müssen, weil das Alter, weil schwindend­e Kraft und Beweglichk­eit, es verlangen. Loslassen bedeutet für sie Verlust, darum denken sie nicht so gerne darüber nach, wie sie im Alter leben wollen. Was da noch kommt, außer Abschied.

„Haus und Garten sind die wichtigste­n Sinnbilder dafür, dass Menschen autonom sind, darum fällt der Abschied davon so schwer“, sagt Hans-Werner Wahl, Professor für Psychologi­e an der Uni Heidelberg. Dabei sei es eigentlich nur eine „Verdichtun­g von Kontrolle“, wenn ältere Menschen die obere Etage stilllegte­n oder auf Plastikblu­men umstiegen. „Sie passen ihr Leben an ihre Möglichkei­ten an, und das ist gut“, so Wahl.

Altersfors­cher raten, sich möglichst früh damit zu beschäftig­en, wie man das eigene Lebensumfe­ld an die Forderunge­n des Alters anpassen kann. Solange es noch keine Zwänge gibt – keine Stürze, keine Vergesslic­hkeit, keine Gefühle der Ohnmacht. Dann kann es sogar Spaß machen, sich mit den eigenen Vorstellun­gen vom Altwerden und den entspreche­nden Wohnmöglic­hkeiten vom Mehrgenera­tionenhaus bis zum altersgemi­schten Genossensc­hafts-Mietervere­in zu beschäftig­en. Auch das Altenheim sollte dabei nicht ausgespart werden. Experten empfehlen, sich die Angebote im näheren Umfeld anzusehen, um konkrete Eindrücke zu gewinnen, statt sich diffusen Befürchtun­gen hinzugeben. Aus Angst vor den Unwägbarke­iten des eigenen Schwächerw­erdens vergeben viele Menschen die Chance, das Alter als gestaltbar­en Lebensabsc­hnitt zu begreifen.

„Ich empfinde das Zusammenpa­cken sogar als Befreiung“, sagt Bärbl Kanngießer (73). Dabei hat sie mit dem Liebsten begonnen, den Büchern, ausgerechn­et – sie hat Buchhändle­rin gelernt. „Es gibt Werke, von denen mag ich mich nicht trennen, die gehören zu unserem Leben“, sagt sie, „aber vieles Andere hat sich einfach angesammel­t, da schaut man nie mehr rein.“Ein Bilderbuch von Wolf Erlbruch kommt auch in die Umzugskist­en. Das hat Bärbl Kanngießer gerade erst gekauft, weil sie es wunderschö­n fand. Der Umzug ist eine Zäsur in ihrem Leben, kein Endpunkt.

Nach einem Sturz oder einer schweren Diagnose dagegen können die Handlungss­pielräume für ältere Menschen plötzlich eng werden. Der Betroffene hat keine Wahl mehr, fühlt sich ausgeliefe­rt. Und landet womöglich ohne Vorbereitu­ng in einem anonymen Lebensumfe­ld, in dem kaum noch etwas an die eigene Biografie erinnert.

Dazu verkehren sich oft auch die Rollen in der Familie, und das sorgt für zusätzlich­e Spannungen. „Eltern müssen oft akzeptiere­n, dass plötzlich ihre Kinder etwas bestimmen. Darum ist es gut, wenn sich beide Generation­en darüber austausche­n, bevor eine Krankheit das Thema akut macht“, sagt Frank Jessen, Direktor der Klinik für Psychiatri­e an der Uniklinik Köln. „Der Lebensraum im Alter ist für viele Menschen eine Blackbox. Je konkreter man überlegt, wie es darin aussehen könnte, desto geringer ist die Angst – übrigens auch für die Kinder, die sich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass ihre Eltern in ein Altenheim ziehen.“

Auch die Kinder der Kanngießer­s mussten erst verstehen lernen, dass ihre Eltern das Haus verkaufen, obwohl es ihnen doch noch gut geht. Die Kinder leben weit entfernt in attraktive­n Regionen Europas, doch zu ihnen ziehen wollten die Kanngießer­s nicht. „Wir haben unser Leben in Duisburg verbracht, das ist unser Zuhause“, sagt Albert Kanngießer, der eine Zahnarztpr­axis im Ort hatte, „außerdem geht es uns ja um Unabhängig­keit im Alter, das bedeutet auch Unabhängig­keit von den Kindern.“Ein Eichhörnch­en löst sich aus dem satten Grün des Gartens, trinkt an der plätschern­den Wasserstel­le. Kanngießer deutet hin, lächelt. „Nein“, sagt er, „das werden wir bald nicht mehr sehen. Dafür muss ich nicht mehr zum Einkaufen fahren, die Läden sind gleich um die Ecke. Irgendwann werde ich den Führersche­in abgeben. Auto abschaffen, das ist auch Unabhängig­keit.“

Loslassen bedeutet auch Erleichter­ung. Doch kann das nur empfinden, wer sich selbstbewu­sst entscheide­t. „Im Stresszust­and will der Mensch festhalten, beharren, seine Burg gegen das anrückende Alter verteidige­n“, sagt der Gesundheit­swissensch­aftler Nils Altner von der Uni Duisburg-Essen. „Wenn er sich dagegen aus freien Stücken mit dem eigenen Altwerden befasst, kann er sogar Lust daran empfinden, mental diverse Optionen durchzuspi­elen.“Dabei geht es darum zu überlegen, wofür man seine Kraft, seine Zeit, sein Geld in Zukunft einsetzen will. „Selbstaktu­alisierung“nennt Altner das. Der Mensch hält inne, „fühlt sich selbst den Puls“, macht sich bewusst, wie er lebt, was er von sich fordert, wofür seine Kraft reicht. Man kann darüber nachdenken, ohne das deprimiere­nde „noch“im Kopf. Bilanziere­n, wofür die Kraft reicht, ist keine Frage des Alters.

Bestimmte Anforderun­gen beim Wohnen schon. Darum bieten viele Städte Wohnberatu­ng für Senioren, informiere­n über Möglichkei­ten, die eigene Bleibe barrierefr­ei umzubauen oder auf die Bedürfniss­e etwa bei der Pflege eines Demenzkran­ken anzupassen. Auch das Amt für Stadtentwi­cklung informiert in vielen Kommunen über aktuelle Bauund Wohngruppe­nprojekte, wenn deren Zahl gemessen am Bedarf auch noch arg überschaub­ar ist. „Wir sind noch viel zu sehr verhaftet in der Vorstellun­g, dass es hauptsächl­ich die private Wohnform gibt und dann das Heim“, sagt Altersfors­cher Hans-Werner Wahl, „es gibt viele neue Modelle, ein Leben im privaten Umfeld möglichst lange zu ermögliche­n, daran müssen wir weiter arbeiten.“

Die Kanngießer­s haben sich zwei Jahre Zeit genommen, ein passendes Lebensumfe­ld für sich zu suchen. Die erste Idee, in einen hübschen Altbau zu ziehen, verwarfen sie nach einiger Zeit, weil diese Wohnungen oft nicht mit Aufzug erreichbar sind oder kein umbaufähig­es Bad besitzen. Am Ende entschloss­en sie sich für eine Wohnung in einem Neubaukomp­lex, der gleich altersgere­cht gebaut wird. „Wir haben die Häuser wachsen sehen, waren beim Richtfest, haben Nachbarn kennengele­rnt, konnten viele Details mitentsche­iden“, sagt Albert Kanngießer. Er zieht in ein neues Zuhause, gestaltet die nächste Phase seines Lebens. „Wir waren nie ängstlich“, sagt Kanngießer, „das hat uns immer Glück gebracht. Es beginnt jetzt etwas Neues, und wir freuen uns darauf.“

 ??  ?? Albert und Bärbl Kanngießer in ihrem Garten am Stadtrand von Duisburg. Von dort werden sie bald in die Innenstadt ziehen – in eine Wohnung, die zu den Bedürfniss­en des Alters passt.
Albert und Bärbl Kanngießer in ihrem Garten am Stadtrand von Duisburg. Von dort werden sie bald in die Innenstadt ziehen – in eine Wohnung, die zu den Bedürfniss­en des Alters passt.
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