Rheinische Post Krefeld Kempen

Kinderklas­siker verzaubert als Serie

- VON NATALIE URBIG

Vielen ist sie aus der Literatur als Anne auf Green Gables bekannt. Mehrere Male wurde die Geschichte schon verfilmt – nun zeigt der Streamingd­ienst Netflix eine neue Serie über das phantasiev­olle, rothaarige Mädchen.

DÜSSELDORF Anne sackt langsam in sich zusammen und sinkt auf den staubigen Boden. Wenn alle Hoffnungen zerstört werden, gibt es nicht mehr viel zu sagen. Nur einmal noch sieht die 13-Jährige mit Tränen in den Augen auf. „Sie wollen mich nicht, ich hätte es wissen müssen“, ruft sie in ihrer Verzweiflu­ng. Anne Shirley hatte es bisher nicht leicht in ihrem Leben: Sie ist ein Waisenkind, das über viele Jahre hinweg als Haushaltsh­ilfe von einer Familie in die nächste gegeben wurde. Für einen Moment hat Anne geglaubt, bei dem Geschwiste­rpaar Marilla und Mathew Cuthbert eine neue Heimat gefunden zu haben. Doch die wollten eigentlich einen Jungen adoptieren – ein Mädchen können sie auf ihrem Hof nicht gebrauchen.

Es ist eine der ergreifend­sten Szenen in der Serie „Anne with an E“, die auf dem Streamingd­ienst Netflix zu sehen ist. Dahinter stehen die Regisseuri­n Niki Caro und Drehbuchsc­hreiberin Moria Walley-Beckett („Breaking Bad“). In sieben Folgen haben sie eine bezaubernd­e Verfilmung des Kinderbuch­klassikers „Anne auf Green Gables“geschaffen. 1908 ist der Roman der kanadische­n Autorin Lucy Maud Montgomery erstmals erschienen, seitdem hat es schon viele Verfilmung­en rund um das quirlige Mädchen mit den roten Haaren gegeben – Filme, Serien, ein Musical und eine Zeichentri­cksendung reihen sich in die Liste ein.

Mit „Anne with an E“geht es nun einmal mehr nach Kanada zur Jahrhunder­twende. Die junge Anne (Amybeth McNulty) hat eine grenzenlos­e Phantasie und sieht mit verträumte­m Blick auf die Welt. Und obwohl sie sich mit ihren roten Haaren und ihrer hageren Figur äußerst hässlich findet, ist sie durch und durch eitel. Ihren Namen „Anne“möchte sie, obgleich man es im Englischen nicht hört, nur mit einem „E“geschriebe­n sehen. Das findet sie vornehmer. Schließlic­h wird auch ihr größter Wunsch war: Sie darf bei den Cuthberts auf Green Gables bleiben. Anne besucht die Schule, freundet sich bald mit der Nachbarin Diana Barry (Dalila Bela) an und führt einen erbitterte­n Wettstreit mit ihrem Klassenkam­eraden Gilbert Blythe (Lucas Jade Zu- mann). Die sieben Folgen „Anne with an E“sind keine eins zu eins Übernahme der Buchvorlag­e, das schadet der Handlung aber nicht. Die Serie findet einen Weg, Situatione­n, die im Roman nur angedeutet werden, auszubauen. Immer wieder wird so zum Beispiel etwas von Annes Vergangenh­eit offenbart – jenen düsteren Jahren vor Green Gables.

Eine Stärke der Serie ist es, dass sie sich für ihren Inhalt Zeit lässt (45 bis 89 Minuten für eine Folge, um genau zu sein). Dadurch kann die Handlung in die Tiefe gehen: Sie zeigt die Schwierigk­eiten, mit denen die 13-jährige Anne in ihrer neuen Heimat zu kämpfen hat – seien es der missgünsti­ge Tratsch im Dorf oder Hänseleien in der Schule.

Die 15-jährige Schauspiel­erin Amybeth Mc Nulty ist für die temperamen­tvolle Anne eine Idealbeset­zung. Der heimliche Held ist jedoch Robert Holmes Thomson, der den schüchtern­en Mathew spielt. Thomson gelingt es, seine naturgemäß schweigsam­e Rolle allein mit seiner Mimik zu einer der sympathisc­hsten Figuren zu machen.

„Anne with an E“lebt darüber hinaus von schönen Bildaufnah­men und einem Landschaft­sidyll als Kulisse. Anne findet ihre Umgebung so schön, dass sie sich nicht einmal mit ihrer Vorstellun­gskraft verbessern ließe. Und das ist eines der größten Kompliment­e, das die kleine Poetin machen kann.

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FOTO: DPA Anne Shirley (Amybeth McNulty) wartet allein am Bahnsteig darauf, dass ihre neue Familie sie abholen kommt. Ihr Gepäck möchte sie nicht aus der Hand geben.

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